Diese menschlich verständliche Annäherung ist in politischer Hinsicht wohlfeil. Denn statt ungezählter Talkshows darüber, ob die Deutschen nun mehr oder weniger rassistisch sind als andere Nationen, müssten endlich öffentliche leidenschaftliche, zornige Debatten darüber geführt werden, wie man schnellstens den Krieg in Syrien beenden kann, damit den Vertriebenen nicht ihre Lebensperspektive in ihrer Heimat genommen wird. Immer noch sind die Sanktionen der EU gegen Syrien in Kraft – sie aufzuheben, wäre ein Leichtes. Doch die EU ist, wie Deutschland, verstrickt in den Krieg in Syrien, weil sie am Ende zu profitieren hofft. Auch die Zivilgesellschaft versagt kläglich: Der Kölner Kardinal Woelki hat ein Flüchtlingsboot als Altar verwendet, um zu zeigen, dass die Christen solidarisch mit den Flüchtlingen sein müssen. Das stimmt – und doch hätte der Kardinal besser getan, wenn er, in christlich-pazifistischer Tradition, das Morden in Syrien angeprangert hätte, damit die Menschen gar nicht erst in zerbrechliche Barken getrieben werden. Doch über den Krieg spricht der Kardinal in seiner klug und sauber elaborierten Predigt nicht.
Grundlage der moralischen Elfenbein-Diskussion ist die Fiktion, man wisse nicht, wer in Syrien gegen wen kämpft – und könne daher nichts dagegen tun. Während auf der einen Seite die Vertreibung von Millionen Menschen als Segen der Globalisierung angepriesen wird, wird der Krieg, werden die realen Drahtzieher, Rädelsführer und Profiteure ausgeblendet, als gäbe es einen globalen Eisernen Vorhang – im Zeitalter der weltweiten Kommunikation durch das Internet. Doch hinter dem Krieg in Syrien und in weiterer Folge im ganzen Nahen Osten stehen knallharte wirtschaftliche Interessen. Wir erleben einen tödlichen Kampf um die Vorherrschaft am globalen Energiemarkt.
Die Ausgangslage ist einfach zu verstehen: Russland ist der Hauptlieferant von Öl- und Gas nach Europa. Diese mächtige Stellung Russlands wollen die USA brechen. Dabei sollen Saudi-Arabien und alle anderen arabischen Könige am Golf helfen. Gemeinsam sollen neue Öl- und Gaspipelines durch Syrien fließen, um die Europäer mit arabischem Öl und Gas zu versorgen.
Der europäische Energiemarkt soll den Russen somit abgejagt werden. Die syrische Regierung hatte sich gegen diesen Plan der USA und der Saudis gestellt. Seitdem tobt in Syrien ein „Pipeline-Krieg“. Die Türkei hingegen möchte einen Anteil an den Öl- und Gasverkäufen von den geplanten Pipelines. Das Land spielt deshalb eine Vermittlerrolle zwischen der Nato und den arabischen Monarchen. Der Pipelinebau in Syrien kann nur stattfinden, wenn man die Landstriche des Landes ungehindert nutzen kann.
Deshalb sind die Millionen an Vertriebenen aus Syrien nach Europa das Ergebnis einer gigantischen ethnischen Säuberung, um wichtige Landstriche Syriens für den Pipeline-Bau vorzubereiten. Die Mehrheit der Syrer machen die Amerikaner für das ungeheure Leid und die Zerstörung ihrer Heimat verantwortlich, wie der amerikanische Historiker Eric Zuesse kürzlich in einer schonungslosen Analyse bei Almasdar News berichtete. Ob ganz Syrien zerstört wird oder nicht, ist aus Sicht der Landnehmer Nebensache. Wichtig ist die Route für die Pipeline – und hier müssen Christen, Alewiten, Sunniten und Schiiten gleichermaßen bezahlen. Wer sich den militanten Söldnern entgegenstellt, wird ermordet – ohne Ansehen der Person, der Religion oder seine Status als Zivilist. Die Haager Landkriegsordnung gibt es schon lange nicht mehr, ebenso wenig, wie in diesem Krieg die Menschenrechte noch in ihrer viel beschworenen Universalität gelten.
Die Europäer befinden sich in einem unlösbaren Dilemma. Sie haben keine Armee – und können daher nicht dazwischen gehen. Und sie haben ein Interesse an der Pipeline, weil sie die Energie brauchen. So werden die Flüchtenden völlig unschuldig zu den Sündenböcken. Die radikalen Kriegstreiber fachen den Hass an, indem sie Terroristen unter die Flüchtenden schmuggeln und so die Angst in Europa schüren und alle Migranten einem Generalverdacht aussetzen. Als Verbündete der USA glauben die Europäer, keine Wahl zu haben. Sie ignorieren daher die Tatsache, dass die USA mit ihren Golf-Alliierten ein Teil des Problems und nicht ein Teil der Lösung sind. Mangels eines moralischen Kompasses, einer Armee und einer gemeinsamen Außenpolitik haben sich die Europäer wegen des Kriegs um das Öl heillos zerstritten. Radikale Parteien sammeln die verängstigten Wohlstandsbürger auf, die fürchten, etwas verlieren zu müssen. Zu Sündenböcken werden jene erklärt, die schon alles verloren haben – Flüchtlinge und Migranten aus den zerstörten Regionen, in denen die Rohstoffe lagern.
Die Blickwinkel auf den Syrien-Konflikt sind verschieden. Die Europäer verbinden mit dem Syrien-Konflikt Islamismus und Flüchtlinge. Die arabischen Monarchien betrachten den Konflikt angesichts der geplanten Pipelines als ein reines Geschäft. Doch den USA geht es noch zusätzlich darum, Russland zu schwächen. Washington will die Verbündeten Russlands entlang oder in der Nähe seiner Grenzen loswerden. Russland seinerseits strebt nach einer Allianz mit dem Iran und verfolgt ebenso eigene Interessen. Man muss den Russen jedoch zugutehalten, dass sie als einzige vor dem IS nicht bloß dauernd warnen, sondern gegen ihn kämpfen. Man muss auch US-Präsident Obama zugute halten, dass er den Wahnwitz dieses Krieges erkannt hat, ihn beenden will und daher mit den Russen kooperiert und die Falken im eigenen Land niederhält, so gut er kann. Doch Obama ist ohnmächtig, weil die Rüstungsindustrie, die Lobbyisten und die Geheimdienste schon für die Zeit nach ihm planen. Die Russen sind genau aus demselben Grund in der Defensive.
Zuesse sieht das Ende des tödlichen Spiels aus amerikanischer Sicht: Am Ende dieses Plans könnte eine „friedliche“ Übernahme der russischen Öl- und Gasfelder durch pro-amerikanische russische Oligarchen stehen, die mit den USA kooperieren. Dieses Ziel hätten die USA unter dem ehemaligen Kreml-Chef Boris Jelzin fast erreicht. Allerdings kehrte Putin diesen Prozess um und machte Russland erneut zu einer globalen Energie- und Militärmacht.
Doch weder die geopolitischen Zukunftsszenarien noch die deutschen Vergangenenheitsprobleme sind es, die thematisiert werden müssen. Die Gegenwart ist so banal wie das Böse immer banal auftritt: Täter, Mitwisser, Wegseher, Ignoranten und Profiteure bilden eine unheilige Allianz. Die Schande Europas ist, dass es nicht einen einzigen Regierungschef gibt, der unablässig den Krieg in Syrien anprangert als das, was er ist: Als ein schmutziger Krieg ums Öl mit den altbekannten Playern, die sich nun vor der Haustüre Europas austoben. Die Schande Europas ist, dass man sich ernsthaft von rechten und rechtsextremen politischen Glücksrittern einreden lässt, von „Barbaren“ überrannt zu werden – und nicht zu sehen, dass die pragmatische Barbarei in der Maske der zivilisierten Gesellschaft die Ursache des Leids derer ist, die zu uns gejagt werden, obwohl sie eigentlich gar nicht kommen wollten. Krieg ist kein Schicksal. Wo immer es Opfer gibt, gibt es Täter. Eines Tages werden die Opfer Gerechtigkeit fordern.
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