Wenn der Regen nicht mehr fällt

  12 Juni 2016    Gelesen: 439
Wenn der Regen nicht mehr fällt
Indiens Dürre ist ein Vorbote neuer Krisen in vielen Schwellenländern. Umgehend hat sich eine "Durst-Wirtschaft" entwickelt – die von der Not profitiert.
Abgesehen von einigen schmucklosen Fakten, weiß man nicht viel über Natabai Tenkale. Sie stammte aus Latur, einer kleinen Handelsstadt im Bundesstaat Maharashtra im Westen von Indien, sie war 55 Jahre alt, sie hatte einen Sohn und eine Schwiegertochter. Am 6. März stellte sie sich wie gewöhnlich für die tägliche Wasserration in die Schlange an der Wasserstelle in der Nähe ihres Slums an, so wie sie es schon seit vielen Wochen machte. Es war drei Uhr nachmittags, die Schlange war lang, und sie hatte einige Stunden gewartet. Als sie endlich an der Reihe war, brach sie vor Erschöpfung zusammen und starb an einem Herzinfarkt. Kurz darauf kollabierte auch ihre Mutter, Gawlanbai Kamble, die aus einem nahegelegenen Dorf zur Beerdigung ihrer Tochter angereist war, und verstarb. Beide Fälle werden einem Phänomen zugerechnet, das in den Medien etwas lieblos als "Wassertod" bezeichnet wird, Todesfälle, die sich im Zusammenhang mit dem Besorgen oder Sammeln von Wasser ereignen.

Viele Opfer sind Kinder. Kinder wie Rajshree Kamble, ein Zehnjähriger aus dem Distrikt Beed in Marathwada; er starb im März, als er das Gleichgewicht verlor und in einen Brunnen stürzte. Oder Sachin Kengarwar, er rutschte vor den Augen seines Bruders Chandu aus und fiel ebenfalls in einen Brunnenschacht. Dorfbewohner zogen ihn heraus und versuchten, ihn wiederzubeleben, aber zu spät. Und an einem Tag im April war die zwölf Jahre alte Yogita Desai viermal zum Wasserloch in der Nähe ihres Dorfes gelaufen, um Wasser zu holen, als sie schließlich ohnmächtig wurde und an einer Kombination aus Austrocknung, Ruhr und Herzinfarkt starb.

Die Region Marathwada im Bundesstaat Maharashtra hat sich zum Epizentrum der kräftezehrenden Dürre entwickelt, die Indien ergriffen hat. Seit Februar führte die Wasserknappheit dort zu fast 50 Todesfällen. Zugleich ist sie Symbol einer neuen und unerwarteten Herausforderung, die viele aufstrebende Volkswirtschaften in ihrem gesellschaftlichen und ökonomischen Kern zu beschädigen droht: Der Monsunwind weht wegen der Erwärmung des Weltklimas kürzer als früher oder fällt ganz aus und bringt keinen Regen mehr. Seit dem vergangenen Jahr leiden deshalb Schwellenländer wie Indien, Kenia oder Äthiopien unter lang anhaltenden Hitzewellen und verheerenden Dürren.

Für die indischen Behörden ist die Zahl der am Durst Gestorbenen nur die Fußnote zu einer anderen, größeren Zahl: jener der Bauern, die aufgrund von dürrebedingten Ernteausfällen Selbstmord begehen. Die Anzahl der Selbsttötungen unter Landwirten lag allein in Maharasthra im vergangenen Jahr bei 3228, davon wurden 1130 in der Region Marathwada registriert. Auch in diesem Jahr wird Marathwada wieder die traurige Hauptstadt der Bauernselbstmorde sein, aber das ist in einem Land, das sich an Katastrophen gewöhnt hat, nur eine Randnotiz wert.

Es war erst – und ausgerechnet – der Cricket-Sport, der die nationale Aufmerksamkeit auf das sich ausbreitende Desaster in Indiens ländlichen Regionen gelenkt hat. Im vergangenen Monat hat der Oberste Gerichtshof in Mumbai angeordnet, die glamourösen und kostspieligen Begegnungen der Indian Premier League aus dem von der Trockenheit gezeichneten Maharashtra zu verlegen, nachdem eine offizielle Untersuchung festgestellt hatte, dass fast 60 000 Liter Wasser täglich für die Instandhaltung der Spielfelder verbraucht werden. So wurde die Dürre zum Thema in den landesweiten Nachrichten, wo seither zwei Interpretationen miteinander wetteifern: In dieser Krise zeige Indien sein Gesicht als rücksichtslose Vetternwirtschaft, sagen die einen, während andere vor allem die Nation der Armen und Entrechteten erkennen.

Nach Regierungsangaben betrifft die Dürre inzwischen ein Viertel der Bevölkerung, 330 Millionen Menschen in zehn Bundesstaaten, und erstreckt sich auf alle Landesteile. Informierte Stimmen bezeichnen diese Zahl allerdings als konservative Schätzung und gehen eher von 540 Millionen Betroffenen aus. Große Teile des Landes gleichen inzwischen einer Wüstenlandschaft, in der Seen, Staudämme und Flussbetten ausgetrocknet sind.


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