Nur geschätzt 500 bis 1000 IS-Kämpfer halten die Stadtbevölkerung als Geisel. Rund 28.000 Menschen sind dem norwegischen Flüchtlingsrat (NRC) zufolge, einer vor Ort tätigen Hilfsorganisation, aus der Stadt geflohen. Am Wochenende hätten allein 4000 Menschen einen Sicherheitskorridor aus der Stadt heraus genutzt. Die Armee hatte zuvor eine große Straße zurückerobert und es damit erstmals hinbekommen, einen Ausweg für die Eingeschlossenen abzusichern. Am Vortag hatten noch IS-Milizen Fliehende auf der Straße erschossen. Auf anderen Fluchtwegen sind die Menschen gezwungen, den Euphrat zu durchqueren. Dabei ertranken bereits Dutzende Kinder.
Doch nicht nur der IS sorgt für Lebensgefahr der Falludschaner in der Stadt oder auf der Flucht. Schon kurz nach Beginn der Militäroffensive gab es die ersten Berichte über Massaker an sunnitischen Männern, die der Armee nahestehende schiitische Milizen verübt haben sollen. Berüchtigt sind die "Haschd al-Schaabi", die Volksmobilmachungskräfte. Hinter dem Namen verbirgt sich eine von der irakischen Regierung geförderte Dachorganisation von fast 40 schiitischen Milizen. Sie wurden vor zwei Jahren gegründet, um gegen den IS zu kämpfen, der damals gerade große Gebiete erobert und von Mossul aus sein Kalifat ausgerufen hatte.
Seit Jahren ist Falludscha, das schon immer etwas konservativer war als andere Orte im Irak, ein Hort sunnitischer Extremisten. Im Widerstand gegen die US-amerikanischen Besatzer hatten sich ab 2003 immer wieder neue Gruppen gebildet, darunter die Vorläuferorganisation des IS unter Führung des Jordaniers Abu Musab al-Zarqawi. Die Stadt erlebte im dritten Golfkrieg mit die heftigsten Schlachten im Land. Auch nach dem Abzug der Amerikaner blieb der Extremismus, der sich zunehmend gegen die schiitische Regierung in Bagdad richtete. Der IS hatte es Anfang 2014 leicht, sich in Falludscha und der westlichen Provinz Anbar auszubreiten.
Berichte über Massaker helfen IS
All das erschwert nun die Rückeroberung für die Armee. Die möglichen Kriegsverbrechen ihrer Milizen bescheren dem IS nun sogar neue Sympathien. Die Berichte darüber lassen sich nicht nachprüfen. So zitiert die irakische Agentur "Ara News" einen Mann aus einem Vorort von Falludscha, der 300 Leichen mutmaßlich ermordeter Männer auf einem Schulhof gesehen hatte. Die Milizen sollen Männer aus Falludscha grundsätzlich erst einmal Prüfungen unterziehen, ob sie IS-Kämpfer sind. Vielen wird dies aber nur unterstellt, wie Überlebende berichteten. Viele von ihnen wurden misshandelt, bevor sie doch freikamen.
Zwei Wochen nach Beginn der Offensive kündigte Iraks Premierminister Haidar al-Abadi eine Untersuchung der Vorfälle an. Wenige Tage später forderte der Provinzrat von Anbar den Premier auf, die Milizen ganz aus der Offensive herauszuhalten. Der sunnitische Großmufti im Irak, Scheich Rafi al-Rafai, verglich die Milizen sogar mit dem IS selbst. "Wo ist die irakische Regierung und ihre Armee? Sind sie abhängig von schiitischen Milizen, die die Einwohner von Falludscha enthaupten?", sagte er laut dem irakisch-kurdischen Nachrichtenportal "Bas News". Der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sagte ein sunnitischer Stammesführer aus Falludscha, die Verbrechen der schiitischen Milizen schürten den Terrorismus. "Ich bin überrascht, dass die Regierung [dem IS] so ein Geschenk macht." Ihm zufolge glauben viele Menschen in Falludscha inzwischen, die Angriffe der Regierung auf die Stadt gälten gar nicht dem IS, sondern den Sunniten allgemein.
Für die irakische Regierung ist die ganze Rückeroberungsaktion jetzt schon eine politische Katastrophe. Sie hat keinerlei Sympathien gewonnen, sondern nur verspielt. Hinzu kommt eine humanitäre Katastrophe. Anfang des Monats schätzten die Vereinten Nationen, dass 50.000 Menschen weiterhin in der Stadt gefangen waren. Hilfsorganisationen zufolge mangelt es drinnen an allem: Wasser, Nahrung und Medikamente sind knapp. Niemand weiß genau, wie viele Menschen in Falludscha schon verhungert sind. Menschen, die nach ihrer Flucht von Helfern untersucht wurden, litten an Durchfallerkrankungen, waren dehydriert und abgemagert. Auch für sie ist die Versorgungslage schlecht, weil die Regierung in Bagdad aus Sicherheitsgründennur wenig Güterverkehr zwischen der Hauptstadt und der Provinz Anbar zulässt. Die Hilfsorganisationen kämpfen unterdessen damit, alle Flüchtlinge zu versorgen. Laut NRC fehlen für die Notversorgung der nächsten sechs Monate zehn Millionen US-Dollar.
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