Warum IS-Terrorpläne für Deutschland bislang scheiterten

  23 Juni 2016    Gelesen: 933
Warum IS-Terrorpläne für Deutschland bislang scheiterten
Nur drei Monate hielt es Harry S. beim IS in Syrien aus. Dann floh der 27-Jährige. Dem Verfassungsschutz erzählte der Bremer schon 2015 von Terrorplänen - und einem Problem mit deutschen Rekruten.

Den ersten Prozess hat Harry S. in diesem Jahr schon hinter sich. Im Februar verurteilte ihn das Landgericht Verden wegen Raub und gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Haft. Harry S. soll gemeinsam mit vier Komplizen vor einem Jahr eine Pferdepension im niedersächsischen Oyten überfallen haben.

Als Zollbeamte verkleidet, drangen die Männer frühmorgens in das Haus ein und fesselten das darin wohnende Ehepaar. Die Drohung: Geld her, oder sie würden bei lebendigem Leib angezündet. Insgesamt erbeutete die Bande 2330 Euro in bar, Bankkarten, zwei Reisepässe, drei Sparbücher, eine Münzsammlung, einen Führerschein, Schmuck und Uhren.

Noch ist das Urteil wegen des Überfalls nicht rechtskräftig. Aber bereits am Mittwoch muss sich Harry S. erneut vor Gericht verantworten. Diesmal geht es nicht um Raub oder Diebstahl, sondern um die Mitgliedschaft in der wohl brutalsten Terrororganisation der Welt – dem Islamischen Staat (IS).
Was zieht einen jungen Mann aus Bremen in den Bürgerkrieg nach Syrien? Wie rekrutiert die Terrormiliz IS in Deutschland neue Anhänger? Und planen die Dschihadisten sogar ähnliche Anschläge wie in Paris und Brüssel auch in der Bundesrepublik?

Informationen für den Verfassungsschutz

Zumindest einen Teil der Antworten darauf könnte der Prozess gegen Harry S. liefern, der am Mittwoch vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg beginnt. Mehr als 800 Islamisten aus Deutschland sind in den Dschihad nach Syrien und in den Irak gereist. Rund ein Drittel ist wieder zurück. Harry S. aus Bremen ist einer von ihnen. Drei Monate war er beim IS, diente sogar in einer Spezialeinheit. Er war dabei, als Menschen hingerichtet wurden, wirkte in einem Propagandavideo mit. Und: Der IS wollte ihn angeblich für Attentate in Deutschland gewinnen.

Mehrfach sprach Harry S. mit dem Verfassungsschutz und der Staatsanwaltschaft über seine Erlebnisse in Syrien. Die Gesprächsprotokolle darüber füllen mehr als 100 Seiten. Selten zuvor hat sich ein Syrien-Rückkehrer den deutschen Terrorfahndern gegenüber so umfassend offenbart.

Die Geschichte von Harry S. ist die einer Jugend zwischen Rapmusik und Gefängnis. Und letztendlich einer islamistischen Radikalisierung, die in den Terrorcamps von Syrien endete.
Schwierige Familienverhältnisse


Harry S. wuchs als Sohn ghanaischer Einwanderer in der Hansestadt auf, im sozialen Brennpunkt Osterholz-Tenever. Plattenbausiedlung, hohe Arbeitslosigkeit, Gangkriminalität. Es waren schwierige Familienverhältnisse, in denen der Bremer groß wurde. Schon früh verschwand der leibliche Vater. Harry lebte bei seiner strenggläubig christlichen Mutter, der Freundeskreis driftete ab in die Kleinkriminalität.

Kurzzeitig zog er zu seiner Mutter und Schwester, die mittlerweile in London lebten. Harry schrieb sich an Colleges ein, wollte Bauingenieur werden. Einen Abschluss aber schaffte er nicht. In der britischen Hauptstadt kam der Deutschghanaer wohl erstmals mit Salafisten in Kontakt – und konvertierte zum Islam. Da war er 20 Jahre alt.

In Deutschland fiel Harry wieder in alte Muster zurück. Er überfiel im Jahr 2010 mit seinen Freunden einen Supermarkt in Bremen-Huckelriede. Die Beute: 23.500 Euro. Von dem Geld machte die Clique zunächst Urlaub auf den Kanarischen Inseln. Wieder zurück in Bremen, klickten die Handschellen. Harry wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

Weil er die Auflagen seiner Bewährungsstrafe nicht erfüllte, musste Harry schließlich ins Gefängnis. In die Justizvollzugsanstalt im Bremer Stadtteil Gröpelingen, Orteils Oslebshausen.
Im Knast saß der "Emir von Gröpelingen"

Dort saß damals bereits ein Mann ein, den deutsche Sicherheitsbehörden als islamistischen "Gefährder" einstufen: René Marc S., Salafist, in der Szene bekannt als "Emir von Gröpelingen". Unter seinem Einfluss soll sich auch Harry S. verändert haben, wie Justizvollzugsbeamte damals notierten. Es war der Beginn einer Radikalisierung.

Nach seiner Haftentlassung besuchte Harry regelmäßig die Masjid Al-Furqan, eine einschlägige Salafisten-Moschee in Bremen-Gröpelingen. Viele von Harrys Freunden gehörten dem dort ansässigen "Kultur- und Familienverein" (KuF) an, der 2014 verboten wurde. Mindestens 15 Anhänger des Vereins sollen inzwischen in den Dschihad nach Syrien gereist sein.


Im April 2014, nur wenige Wochen nach dem Überfall auf den Pferdehof in Oyten, verschwand auch Harry S. spurlos. Er flog nach Istanbul, reiste dann weiter nach Gaziantep unweit der türkisch-syrischen Grenze. Hier nahmen ihn die türkischen Behörden fest. Es folgte die Abschiebung nach Deutschland.

Zurück in Bremen, befragte ihn die Polizei zu seiner Reise. Was er denn in der Türkei gewollt habe, fragten die Staatsschutz-Beamten. Er habe in einem syrischen Flüchtlingslager helfen wollen, sagte Harry. Die Polizisten glaubten ihm nicht. Sein Reisepass wurde daraufhin eingezogen, er bekam die Auflage, sich künftig zwei Mal wöchentlich bei der Polizei zu melden. So sollte eine weitere Ausreise verhindert werden. Vergeblich.

Nur ein Jahr später reiste Harry S. mit dem Pass eines Freundes nach Syrien. Seine Ehefrau ließ er in Deutschland zurück. Begleitet hatte ihn sein Kumpel, der Montenegriner Adnan S. Die Reise des Duos führte im April 2015 zunächst auf dem Landweg von Bremen nach Wien, dann weiter nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis in die Türkei. Mithilfe von Schleusern erreichten die beiden Bremer die Stadt Sanliurfa an der syrischen Grenze.

Kontaktleute der Terrormiliz IS brachten Harry S. und Adnan S. in das Bürgerkriegsland. Die erste Station war ein sogenanntes Wartehaus für Neuankömmlinge im syrischen Tal Abjad. Hier erfolgte die Registrierung als IS-Kämpfer.

IS sucht Attentäter für Anschläge in Deutschland

Nur zwei Tage später, so berichtete Harry S. später den deutschen Ermittlern, sei ein Auto vorgefahren. Zwei französische Dschihadisten, vermummt und schwer bewaffnet, seien ausgestiegen. Es waren Mitglieder des Aminyat, des IS-Geheimdienstes.

Die Terroristen hatten eine brisante Frage an die Neuzugänge aus Bremen: "Wärt ihr bereit, auch Anschläge in Deutschland zu verüben?" Harry S. und Adnan S. verneinten angeblich. Dann wollten die Franzosen wissen: "Habt ihr Leute, die in Deutschland aktiv sind und die bereit sind, ihr Leben zu geben?" Auch dies habe er verneint, behauptet Harry.

Der Deutschghanaer wurde stattdessen einer Spezialeinheit des IS zugewiesen. Zunächst absolvierte er in der IS-Hochburg Rakka gemeinsam mit rund 50 Dschihadisten ein vierwöchiges paramilitärisches Training. Dann kam er nach At-Tabqa, wo er an einer zehnstufigen Sonderausbildung teilnahm – inklusive Nahkampfübungen. Danach wurde der Bremer wohl im syrischen Rakka und im irakischen Ramadi eingesetzt.

In den wenigen Wochen, in denen sich Harry S. beim IS befand, traf er mehrfach auf andere deutsche Dschihadisten. Etwa auf den Berliner Ex-Rapper Denis Cuspert ("Deso Dogg"). Ihn habe er in einer Moschee getroffen, berichtete Harry S. seiner daheimgebliebenen Ehefrau. Und noch jemanden lernte er kennen: Mohamed Mahmoud.

Der österreichische Islamist saß mehrere Jahre wegen Unterstützung von al-Qaida in Wien im Gefängnis. Heute soll er beim IS als Prediger tätig sein, angeblich gibt er Ideologie-Kurse.

Harry S. taucht in Propaganda auf

Im syrischen Palmyra soll Mohamed Mahmoud im Juni 2015 mehrere Dschihadisten aus Deutschland versammelt haben – darunter auch Harry S. Auf einem Marktplatz sollen schließlich acht Gefangene, vermutlich Soldaten des Assad-Regimes, hingerichtet worden sein. Angeblich sah Harry S. dabei zu.
Wenig später dann gab es eine weitere Exekution. Diesmal in den Ruinen des antiken Palmyra. Und dabei lief eine Kamera. Das Propagandavideo mit dem Titel "Der Tourismus dieser Ummah" zeigt, wie der Österreicher Mohamed Mahmoud und der nordrhein-westfälische Islamist Yamin Abou Z. zwei Gefangene erschießen. Für einen kurzen Moment ist in dem Clip auch ein dunkelhäutiger Dschihadist zu sehen, der die schwarze Flagge des IS trägt – es ist Harry S. aus Bremen.

Er selbst habe niemanden getötet und auch nicht an Kämpfen teilgenommen, beteuert der 27-Jährige heute. Im Gegenteil, die Brutalität vor Ort habe ihn abgeschreckt und traumatisiert. Nur kurz nach den Erlebnissen in Palmyra habe er sich daher entschlossen, dem Dschihad den Rücken zu kehren. "Ich bin raus aus dieser Nummer. Ich möchte nicht hier sterben, mit Blut an meinen Händen", beschrieb Harry seine Entscheidung jüngst im einem TV-Interview mit dem ZDF. Ohne Erlaubnis habe er die Terrororganisation verlassen und sei in die Türkei geflohen.
Die Deutschen und die "kalten Füße"

Am 20. Juli flog Harry mit einer Maschine der Turkish Airlines von Izmir aus nach Bremen. Noch am Flughafen nahmen ihnen Beamte des Landeskriminalamtes in Gewahrsam. Wochenlang schwieg der Syrien-Rückkehrer. Dann aber sprach er mit dem Verfassungsschutz, zuletzt am 13. Oktober 2015.
Die Aussagen des Ex-Dschihadisten kamen einer Warnung gleich. Der IS plane spektakuläre Anschläge in westlichen Staaten, etwas, das "überall zeitgleich passiert". Nicht nur Amerika, Frankreich, Belgien oder Großbritannien seien im Visier der Terroristen, sondern auch die Bundesrepublik. Deutsche Terrorrekruten hätten bislang wohl immer "kalte Füße" bekommen, sollen sich die IS-Kader in Syrien beklagt haben. Daher habe es hierzulande noch keine Anschläge gegeben. Aber an willigen Franzosen und Belgiern gebe es keinen Mangel, berichtete Harry im Gespräch mit dem Verfassungsschutz.
Nur einen Monat später schlug der IS tatsächlich in Europa zu. Ein mehrköpfiges Terrorkommando ermordete 130 Menschen in Paris. Die Attentäter waren Franzosen und Belgier.


Quelle: n24.de

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