Deadline war Sonntagabend. Und der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, chaotisch und unorganisiert wie er sonst ist, hält sich an Deadlines. Schließlich ist er von Haus aus Journalist. Also zog er sich an jenem grau verhangenen Wochenende Ende Februar in sein heruntergekommenes Bauernhaus in Oxfordshire zurück und schrieb. Er schrieb zwei Versionen der Kolumne, die er am Sonntagabend beim "Daily Telegraph" einreichen musste. Eine Version, in der er sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU aussprach. Und eine Version für den Brexit.
Sein alter Schulfreund, Premierminister David Cameron, war gerade aus Brüssel zurückgekehrt und hatte das magere Ergebnis seiner Verhandlungen mit den EU-Partnern präsentiert. Er hatte einen neuen Status für Großbritannien in der EU versprochen. Herausgekommen waren fünf kleine Zugeständnisse, die eher etwas für Liebhaber waren.
Johnson ist ein kluger Kopf. Auch wenn er in Oxford mit Note Zwei abschloss und Cameron, sein ewiger Rivale, mit einer Eins. An diesem Wochenende erbrachte er den endgültigen Beweis für seine Intelligenz und seine intellektuelle Wendigkeit. Es heißt, dass die Version des Artikels für Europa noch besser war als die gegen Europa. Er veröffentlichte die zweite.
Ein großartiger Komiker und Demagoge
Die Anekdote beweist, wie knapp die Entscheidung ausfiel. Johnson hätte sich genauso gut für die andere Seite, für David Cameron und für einen Verbleib in der Europäischen Union entscheiden können. Dann hätte das Ergebnis des Referendums mit ziemlicher Sicherheit anders ausgesehen.
Denn das Remain-Lager hatte alle auf seiner Seite: Den Premier und die gesamte Manpower des Beamtenstabs, Brüssel sowieso, den amerikanischen Präsidenten Barack Obama, die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds, die OECD, die G 7, die Bank von England, die Europäische Zentralbank, alle namhaften Ökonomen dieser Welt, dutzende Nobelpreisträger – alle waren für den Verbleib Großbritanniens in der EU.
Und das Brexit-Lager? Es hatte Boris Johnson. Dieses blonde Kraftwerk von einem Mann, dieser großartige Komiker und Demagoge, dieses Glückskind, dem als Londoner Bürgermeister vor allem die Früchte seiner Vorgänger in den Schoß gefallen sind – er ist die einzige Figur von Format, die für den Brexit gekämpft hat.
Rückstand im Alleingang aufgeholt
Gisela Stuart, die Niederbayerin, und Michael Gove, der Justizminister, die anderen zwei Spitzen des Brexit-Lagers, können niemanden begeistern. Nigel Farage, der Rechtsaußenchef der Ukip, höchstens den rechten Rand. Es war Boris Johnson, der den monatelangen Rückstand des Brexit-Lagers nach jenem Wochenende praktisch im Alleingang aufgeholt hat.
Er hat die seltene Gabe, von allen gemocht zu werden. Seine Strategie – wenn man überhaupt davon sprechen kann – bestand darin, Spaß zu haben. Er ist ein begnadeter Wahlkämpfer und hat sich zum Sieg und Großbritannien in den Ausstieg geblödelt und gescherzt.
Sein Mangel an Ernsthaftigkeit erlaubt es ihm, auch die schlimmsten Patzer und Ausfälle grinsend vergessen zu lassen. Während der Kampagne hat Johnson die EU mit Hitler verglichen und Barack Obama wegen seines kenianischen Vaters eine angeborene Missgunst gegenüber Großbritannien vorgeworfen. Er hat schamlos Unwahrheiten von sich gegeben und wiederholt – etwa die Lüge, dass Großbritannien pro Woche 350 Millionen Pfund an Brüssel überweist. Doch nichts davon konnte ihm schaden.
"Boris hat die Gabe, allen möglichen Arten von Schwerkraft zu trotzen", sagte David Cameron über ihn, als sie noch Freunde waren. Seit jenem verregneten Wochenende im Februar sind sie das nicht mehr. Seitdem sind sie Feinde. Und Boris Johnson hat gewonnen. Er gilt jetzt als wahrscheinlicher Nachfolger jenes Mannes, den er verraten hat.
Was für ein großartiger Mime er ist, bewies er knapp drei Stunden nach Camerons Rücktrittserklärung. Länger hat Johnson nicht gebraucht, um sich vom lauten, Uneinigkeit stiftenden Wahlkämpfer in einen besonnenen Staatsmann zu verwandeln. Mit ernster Miene trug er eine bemerkenswerte Rede vor, die keinen Zweifel daran lassen sollte, dass er das Format zum Premierminister hat. Er versprach, Brücken zu bauen, das gespaltene Land zu einen und die besorgten Europäer zu beruhigen. Es war seine Antrittsrede. Boris, der Journalist, der Bürgermeister, der agitatorisch hat eine neue Rolle gefunden. Der Hofnarr ist kurz davor, sich auf den Thron zu setzen.
Quelle: welt.de
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