Verwirrend konträr wirkten am Freitag die spontanen Einschätzungen über die wirtschaftlichen Folgen des Brexit. An der „Grenze des Wahrnehmbaren“ würden sie für Österreich sein, sogar der heurige Schalttag habe einen größeren Effekt gehabt: So beruhigte Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung in Wien. Für Anton Börner hingegen, der die deutschen Exporteure vertritt, ist der Austritt der Briten aus der EU eine „Katastrophe“, die „Europa zerreißen“ könnte. Und für den Chefvolkswirt der Ing-Diba-Bank ist mit dem „Leave“-Votum der „schlimmste Alptraum Europas wahr geworden“.
Wer hat nun recht? In gewissem Sinn wohl alle. Bei der Konjunkturprognose von Wifo und IHS am Donnerstagsetzten beide Institute die unmittelbaren Folgen niedrig an: Nur um 0,1 Prozent würde ein Brexit das Wachstum in Österreich dämpfen. Aber sie betonten: Das sei eben das, was sich in ihren Modellen leicht berechnen lässt, anhand der eher schwachen Verflechtung der beiden Volkswirtschaften. In diesem Sinn kalmierte auch die Bundesregierung.
Deutschland stärker betroffen
Nicht so leicht absehen lassen sich hingegen die indirekten Folgen: Mehr Unsicherheit ist Gift für die Konjunktur, weil Unternehmen von Investitionen ablassen. Somit sei einBrexit im gerade zaghaft einsetzenden Aufschwung „so nötig wie einen Kropf“, sagte Wifo-Chef Karl Aiginger. Die Bank Austria hat deshalb „allein aus der Unsicherheit heraus“ ihre Prognose fürs heimische Wachstum viel deutlicher gekappt: von 1,5 auf 1,0 Prozent im nächsten Jahr.
Die Deutschen sind stärker betroffen: Großbritannien ist ihr drittgrößter Auslandsmarkt. Die Autobauer etwa haben dort Werke: BMW für Mini und Rolls Royce, VW für Bentley, Opel mit der Schwester Vauxhall. Maschinenbauer fürchten starke Auftragsrückgänge, wenn die Wirtschaft auf der Insel stagniert oder schrumpft. Aber wird es dazu kommen? Die längerfristigen Folgen hängen davon ab, ob die Briten einen freien Zugang zum Binnenmarkt behalten können und für den EU-Import ihrer Produkte weiter keine Zölle zahlen müssen – wie das EWR-Mitglied Norwegen und teilweise die Schweiz. Diese beiden Länder mussten dazu freilich viele Regeln übernehmen und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer mitmachen. Brüssel steckt hier in einem schweren Dilemma: Wenn die EU eine solche freundschaftliche Scheidung zulässt, womöglich mit einem neuen „Briten-Rabatt“ bei den Regeln, ermuntert sie weitere Staaten zum Austritt.
Laufen die Verhandlungen aber auf einen schmutzigen Rosenkrieg und die Errichtung von Zollschranken hinaus, schneidet sich Rest-Europa wirtschaftlich ins eigene Fleisch. Jedenfalls haben die Briten ökonomisch mehr zu verlieren: Auch ein Freihandelsabkommen würde typischerweise vor allem auf materielle Waren abzielen und weniger auf Dienstleistungen, die in der britischen Wirtschaft dominieren. Die Finanzdienstleister der Londoner City verlieren ihren „Passport“, mit dem sie bisher Geschäfte in der ganzen EU machen können. Zudem ist Großbritannien, dessen Leistungsbilanz ein chronisch hohes Defizit aufweist, zum Ausgleich auf Kapitalzufuhr und damit Investitionen angewiesen – und diese werden zumindest in den zwei Jahren des unsicheren Übergangs massiv zurückgehen.
Nettozahler fällt weg
Die Bestürzung in Deutschland hat einen zusätzlichen Grund: Mit dem Brexit verschiebt sich der Schwerpunkt der Macht in der EU weiter nach Süden. Der drittgrößte Nettozahler fällt weg, allein Deutschland müsste laut Bertelsmann-Stiftung 2,5 Mrd. Euro zusätzlich an innereuropäischer Umverteilung schultern. Wenn es um liberale Wirtschaftsreformen, Freihandel, Wettbewerb und Eigenverantwortung bei den Staatsfinanzen ging, waren die Briten in Brüssel verlässliche Verbündete der Nordländer. Mit Deutschland, den skandinavischen Staaten und den Niederlanden reichte es für eine Sperrminorität, um die Union auf einem marktwirtschaftlichen Kurs zu halten.
Nun werden die Südeuropäer noch vehementer auf gemeinsame Haftung und die weitere Aufweichung des Stabilitätspaktes drängen. Umso mehr, wenn die Parlamentswahl in Spanien am Sonntag wie erwartet zu einem Linksruckführt. Die stärker isolierten Deutschen müssen umso kräftiger dagegen halten – und sich dabei bei der Mehrheit der verbleibenden EU-Mitglieder unbeliebt machen.
Sicher: Bei vielem standen die Briten auch auf der Bremse. Eine politische Vertiefung der Union wäre ohne sie leichter umzusetzen. Aber angesichts des mächtig gestärkten Anti-EU-Lagers werden sich die Regierungen hüten, hier Initiativen zu ergreifen. Es geht in Europa nicht mehr nach vorn, nur noch zurück: Das ist der Eindruck, den Amerikaner und Asiaten gewinnen müssen. Sie werden deshalb im Zweifelsfall lieber in einem anderen Erdteil investieren. Und dieser Bedeutungsverlust dürfte der Wirtschaft auf längere Sicht am meisten schaden – auf beiden Seiten des Ärmelkanals.
Quelle: diepresse.com
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