An einem Abend im Juni drängen sich etwa 150 Menschen unter den Plastikplanen, die am Rand des Platzes aufgespannt sind. Unter jeder Plane tagt eine sogenannte Kommission: Ökologie, Europa, Bildung - jede hat ein eigenes Thema. Ein Mann mit Softshell-Jacke und Halbglatze erklärt, wie Google Informationen über jeden Internetnutzer sammelt. Einem der Zuhörer dauert die Ansprache zu lange; er will mitdiskutieren.
Ein paar Meter weiter steht das Kantinenzelt. Eine Frau mit rotgefärbten Haaren schöpft Reis mit Gemüse aus einem großen Topf. Daneben backt ein junger Mann in einer flachen Pfanne Crepes. Regen prasselt auf die Plane über ihren Köpfen. Dort, wo keine Schnüre gespannt sind, sammelt er sich zu tiefen Pfützen. Immer wieder stößt jemand mit einem Besenstiel von unten dagegen: Das Wasser muss weg, sonst kracht das Dach ein.
Am 31. März besetzten Aktivisten die Place de la République nordöstlich des Pariser Stadtzentrums. Seitdem kommen sie jeden Abend wieder. Inspiriert wurden sie von den Indignados in Spanien und Occupy in den USA; ihre eigene Bewegung tauften sie Nuit Debout (aufrecht durch die Nacht). Anfangs richtete sich ihr Protest vor allem gegen die geplante Arbeitsmarktreform, doch bald schon kämpften sie für ein komplett anderes System: Die Aktivisten wünschen sich mehr Partizipation, mehr Gerechtigkeit, mehr echte Demokratie.
Bei schönem Wetter ist es noch immer voll
In den ersten Wochen saßen oft mehrere Tausend Menschen vor der Statue von Marianne auf dem Boden, führten Debatten und hielten Versammlungen ab. Das Prinzip: Jeder darf das Wort ergreifen, Entscheidungen werden per Abstimmung getroffen. An diesem Abend im Juni, knapp drei Monate später, ist von der Wucht der ersten Tage nicht mehr viel zu spüren, die Steinplatten in der Mitte des Platzes sind fast leer. Geht Nuit Debout langsam die Kraft aus?
Stellt man der Frau im Kantinenzelt diese Frage, wird sie wütend: "Das ist nur der Regen", sagt sie. Seit Wochen regne es ständig, da könne man eben keine großen Versammlungen abhalten. Aber bei schönem Wetter sei der Platz nach wie vor voll. "Wir werden nicht weniger!"
Diejenigen, die heute auf die Place de la République gekommen sind, sind sich einig: "Nuit Debout ist nicht vorbei", sagen sie. Und es stimmt ja: Wenn die Sonne scheint und etwas Wichtiges ansteht - ein Protest gegen die geplante Arbeitsmarktreform zum Beispiel - versammeln sich immer noch mehrere Hundert Menschen auf dem Platz. Am Vorabend der jüngsten Demonstration wurde sogar über eine permanente Besetzung diskutiert. Für manche bleibt die Place de la République das Zentrum der Bewegung.
Einer von ihnen ist Johan Bikene, ein 28-jähriger Pariser, der auf dem Platz nur Seven genannt wird. Seit dem 31. März fährt er jeden Abend zum Platz. Warum? "Weil es sein muss", sagt er. "Wir müssen den Leuten zeigen, dass wir immer noch da sind, dass es weitergeht. Wir müssen den Platz halten. Wenn wir von hier weggehen, denken die Leute, es ist vorbei."
Nächstes Projekt Parteigründung?
Audrey Arjoune und Sam Cossar sehen das anders. Die 26-jährige Französin und der 28-jährige Australier standen am Abend des 31. März auf der Place de la République und verteilten Flyer, um die Leute zum Bleiben zu bewegen. Es regnete in Strömen, niemand glaubte an den Erfolg des Projekts. In den folgenden Wochen kamen Arjoune und Cossar jeden Abend, nach der Arbeit fuhren sie direkt zum Platz. Inzwischen schauen sie nur noch ab und zu dort vorbei.
"Die Aktivität auf der Place de la République ist definitiv zurückgegangen. Man kann das nicht ewig aufrechterhalten", sagt Cossar. Nuit Debout finde jetzt eher in den Pariser Vorstädten und in anderen französischen Städten statt. Für Cossar ist das der richtige Weg: "Ich denke, Nuit Debout muss sich weiterentwickeln und irgendwann den Hauptplatz verlassen." Es gehe jetzt darum, anderweitig weiterzumachen. Dazu gehöre auch, konkrete Aktionen zu organisieren, wie Casseroles Debout in der vergangenen Woche, sagt Cossar - nur um sofort hinzuzufügen: "Aber das ist nur meine Meinung."
Denn eine offizielle Position gibt es nicht - auch nicht mit Blick auf die Frage, ob aus Nuit Debout irgendwann eine politische Partei werden soll. "Manche sind der Meinung, dass wir eine Art französisches Podemos gründen sollten", sagt Arjoune. "Andere lehnen das komplett ab." Sie selbst ist hin- und hergerissen: "Ich wünsche mir eine Partei, der ich vertraue und die sich für die Positionen einsetzt, an die ich glaube." Aber sie verstehe auch die Einstellung mancher, dass sie mit einer Partei nur das alte Spiel mitspielen würden.
Audrey Arjoune und Sam Cossar sind in der internationalen Kommission von Nuit Debout aktiv. Die versuchte von Anfang an, die Idee der Bewegung zu verbreiten; es gab schon Treffen mit Aktivisten aus Deutschland, Italien und Spanien. Dabei ging es vor allem um Fragen wie: Was können die anderen von Nuit Debout lernen? Könnte die Methode auch in ihren Ländern funktionieren? "Wir wollen andere dazu inspirieren, ähnliche Aktionen zu machen", sagt Cossar. Auch darin sieht er eine Zukunft der Bewegung.
Die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich könne ihnen dabei helfen: "In den sozialen Netzwerken spielen wir viel damit", sagt Cossar. Es gebe Memes zur EM, außerdem würden sie das offizielle Hashtag #Euro2016 benutzen, damit ihre Postings mehr Menschen erreichen. Und das Turnier habe noch einen Vorteil - für Nuit Debout und für die Demonstrationen gegen das Arbeitsgesetz: "Die Regierung ist während der EM viel sensibler gegenüber unseren Aktionen", sagt Arjoune.
Dieser Meinung ist auch Johan Bikene, der immer noch jeden Abend auf die Place de la République kommt: "Ich glaube, durch die Streiks bei Zügen und Flugzeugen hat die ganze Welt verstanden, dass Paris zwar schön ist, aber dass wir hier auch Probleme haben." Und genau diese Probleme will Nuit Debout angehen. Wenn man die Anhänger der Bewegung fragt, was ihr großes Ziel ist, antworten alle das Gleiche: "Wir wollen das System verändern."
Nuit Debout geht also weiter. Die Frage ist nur, wie.
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