Mittelmeer statt Balkan

  03 Juli 2016    Gelesen: 935
Mittelmeer statt Balkan
Es ist ruhig geworden auf der Balkanroute. Zäune und Grenzen versperren den Weg nach Westeuropa. In Deutschland sinken daher die Flüchtlingszahlen. Doch wer vor Krieg und Gewalt flüchten muss, sucht sich andere Wege. Zum Beispiel wieder über das Mittelmeer.

Die Grenzen sind dicht, das Lager Idomeni geräumt - es ist ruhig geworden auf der Balkanroute. Die großen Flüchtlingstrecks des vergangenen Jahres sind vorerst Geschichte. Über die Grenze nach Deutschland kamen im Juni knapp 5000 Menschen, im Januar hatte die Bundespolizei noch 64.700 Flüchtlinge registriert. Im vergangenen Jahr waren insgesamt mehr als eine Million Menschen nach Deutschland gekommen, an einzelnen Tagen waren es mehr als 10.000.

Der Grund für die deutlich gesunkenen Zahlen in der EU: die Abriegelung der Balkanroute und das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei. "Das hat kurzfristig zwar eine Entlastung für die Staaten gebracht, aber damit wurde nichts gelöst", kritisiert Eckart Stratenschulte von der Europäischen Akademie Berlin. "Die Schließung hat damals eine abrupte Krise beendet", sagt auch Dušan Reljić von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Eine Krise, die jedoch weiter schwelt. Denn es gibt sie weiterhin, einige wenige Flüchtlinge versuchen es weiter über die Balkanroute nach Westeuropa. Sie kommen über die grüne Grenze, berichtet Timo Stegelmann, Projektkoordinator Südosteuropa bei "Help - Hilfe zur Selbsthilfe". "Wir merken, dass sich die Routen geändert haben. Viele kommen über Bulgarien. Mit Schlepper-Banden funktioniert das offenbar gut", sagt er. Im Niemandsland zwischen Serbien und Ungarn, so seine Sorge, entwickle sich gerade ein "Idomeni II". Dort leben in einem Flüchtlingslager - je nach Angaben - bis zu 4000 Flüchtlinge. "Die Flüchtlinge stecken dort fest, Ungarn lässt pro Tag nur insgesamt 45 Menschen an drei Übergängen über die Grenze", berichtet Stegelmann.

Kritik am EU-Türkei-Deal

Dass derzeit nur ein Bruchteil an Flüchtlingen im Vergleich zum Vorjahr in der EU ankommt, liegt auch am Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei. Dass die Türkei ihre Grenzen geschlossen hat, habe sich unter den Flüchtlingen schnell herumgesprochen, sagt Reljić. "Solange die Türkei die Grenze dicht hält, werden nicht mehr Flüchtlinge kommen", sagt er. Das Land habe hier eine Schlüsselrolle.

"Der Deal mit der Türkei funktioniert nicht wie gedacht", kritisiert dagegen "Help"-Mann Stegelmann. Es sei eine Frage der Zeit, wann wieder mehr Menschen nach Griechenland kommen. Und dann werde es auch nichts bringen, die Menschen dort festzuhalten. Außerdem stauten sich nun die Menschen in der Türkei. "Damit wurde das Problem nur nach hinten verschoben."

Verlagerung auf zentrale Mittelmeerroute

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex warnt inzwischen außerdem vor einer Verlagerung der Flüchtlingskrise nach Nordafrika. Mittlerweile kämen aus Libyen 13- bis 14-mal mehr Flüchtlinge nach Italien als Migranten aus der Türkei nach Griechenland, sagte Frontex-Chef Fabrice Leggeri in einem Interview. Die zentrale Mittelmeerroute sei so stark frequentiert wie noch nie. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte zwischen Libyen und Italien übersteige in diesem Jahr die aller anderen illegalen Grenzübertritte in die EU. Angekommen sind in diesem Jahr bereits mehr als 225.000 Flüchtlinge in Europa, so die Angaben der Internationalen Organisation für Migration.

Die Mittelmeerroute ist im Vergleich zur Balkanroute der gefährlichste Weg nach Europa. Im Schnitt sterben 16 Menschen pro Tag auf dem Mittelmeer, fast täglich gibt es Berichte über gekenterte Flüchtlingsboote. "Die Mittelmeer-Route birgt die größte Gefahr", sagt Reljić: "Das Mittelmeer ist zu einer Gruft geworden." Deswegen fordert er, dass noch mehr Patrouillen-Boote eingesetzt werden, um zu verhindern, dass noch mehr Menschen auf dem Mittelmeer ihr Leben verlieren. Dennoch sei klar: Wer die Absicht habe, nach Europa zu kommen, werde das tun.

Die EU will nun verstärkt die Fluchtursachen bekämpfen. Doppelt so viel Geld wie bisher will sie in den kommenden fünf Jahren dafür ausgeben. Die Unterstützung soll vor allem Jordanien, dem Libanon, Ägypten und den Maghreb-Staaten zugute kommen, aber auch den Westbalkan-Ländern wie Serbien und Albanien. Angedacht sind Mittel für den Bau von Schulen und Kliniken sowie Wasserzugänge. Hier müsse noch mehr getan werden, um nachhaltig zu helfen, fordert Stegelmann. Wissenschaftler Reljić fordert von der Politik, Länder wie Ägypten oder Libyen zu stabilisieren. Gerade im Maghreb-Raum sei die innenpolitische Situation nicht einfach. "Sollte sich die politische Lage verschlechtern, könnte es zu neuen Flüchtlingsbewegungen kommen", vermutet Reljić.

Durch das sommerliche Wetter werden vermutlich noch mehr Menschen Route übers Mittelmeer wählen, auch wenn der Weg länger und gefährlicher ist. "Jeder Toter ist einer zu viel", sagt Stegelmann. Seine Organisation "Help" richtet sich auf neue Flüchtlinge ein. Im Vergleich zum vergangenen sei man in diesem Jahr insgesamt besser vorbereitet. "Damals waren die Behörden überfordert, es wurde sehr viel improvisiert. Nun gibt es Strukturen", sagt Stegelmann, warnt aber: "Wenn wieder jeden Tag 1000 Flüchtlinge kämen, wäre das wieder eine Katastrophe."

Quelle: tagesschau.de

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