Im Land der „Brexiteers“

  05 Juli 2016    Gelesen: 849
Im Land der „Brexiteers“
In der Region Sunderland haben 61,3 Prozent der Wähler für den Brexit gestimmt, obwohl hier viele Arbeitsplätze am Binnenmarkt hängen. Nun fragen viele, ob das ein Fehler war.
Gavin Palgrave lehnt auf seiner Mülltonne und erzählt über den Zaun seines Vorgartens, warum er für „out“ gestimmt hat. „Ganz einfach: Es kann nicht mehr schlimmer werden.“ Für sich habe er keine große Hoffnung mehr. Aber seine beiden kleinen Söhne sollten es einmal besser haben. Und dafür müsse Großbritannien wieder den Briten gehören. Palgrave ist 29 Jahre alt. Er arbeitet in fester Anstellung auf dem Bau und macht 300 Pfund die Woche. Davon geht die Hälfte für Miete und Gemeindesteuer ab. „Mittlerweile bist du hier besser dran, wenn du Arbeitslosengeld kriegst“, sagt Palgrave.

Gepflegte Grünanlagen trotzen den Umständen. Die Fassaden der Reihenhäuser sind sauber und die aus Beton gegossenen Vorgärten aufgeräumt. Es ist ruhig und friedlich hier in Washington. Ein paar Häuser weiter wehen der Union Jack und eine England-Fahne zwischen Wäsche auf der Leine. Einfache Verhältnisse, aber von Verfall keine Spur. Washington liegt zwanzig Minuten mit dem Linienbus hinter Sunderland. In dieser Region von Nordostengland haben 61,3 Prozent der Wähler für den Brexit gestimmt. Das sind rund zehn Prozentpunkte mehr als beim Gesamtergebnis des Referendums.

Gegen die eigenen Interessen gestimmt

Für die meisten Bürger hier ist die EU genauso weit weg wie die gute alte Zeit. Die letzten beiden Werften wurden 1988 dichtgemacht, die letzte Kohlegrube schloss 1994. Aber einige der Arbeiter konnten aufgefangen werden. Denn zur selben Zeit kam Nissan und errichtete in Washington die größte Autofabrik Großbritanniens. Drei Kilometer von Palgraves Reihenhaus entfernt beschäftigt das Werk heute 7000 Arbeiter.

Palgrave sagt, wenn man Überstunden mache, komme man bei Nissan auf 1800 Pfund im Monat. „Nirgendwo kannst du hier mehr Geld kriegen.“ Die Zuliefererbetriebe nebenan beschäftigen noch einmal zusammen 14.000 Menschen. Mehr als die Hälfte der in Washington produzierten Fahrzeuge wird steuerfrei in die EU exportiert. Und etwas weniger als die Hälfte der Nissan-Anteile befindet sich in französischer Hand.

Haben Palgrave und die vielen anderen hier also gegen ihre eigenen Interessen gestimmt? „Ich muss sagen, leider ja“, sagt John Kelly, der Stadtrat für Washington Nord, wo sich auch die Nissan-Fabrik befindet. „Die Leute sehen die EU hier einfach nicht.“ Dabei lege die Europäische Union mit ihren Regionalförderungsprogrammen für jedes Pfund, das die öffentliche Hand in Washington investiere, im Schnitt noch einmal zehn Pfund drauf.

Das meiste davon geht jedoch direkt in die Industrie, wo der Effekt für den Bürger direkt kaum wahrnehmbar ist. Der andere Teil des Geldes ist meist an sehr konkrete Vorgaben gebunden. „Wir hatten da einen Fall“, sagt Kelly. „Sie gaben uns viel Geld, das ausschließlich für den Neubau eines Fahrradweges im Grüngürtel von Washington verwendet werden durfte, während an der Straße der Fußweg verfiel.“ Da sei es kein Wunder, wenn die Bürger an den Politikern zweifeln würden.

„All die Verantwortlichen der Brexit-Lügenkampagne treten zurück“

Angst, dass Nissan seine Produktion nun in ein anderes EU-Land verlagern könnte, hat Kelly nicht. „Die Investitionen in die neuen Modelle und die Infrastruktur hier sind zu groß gewesen, als dass dies schnell aufgegeben wird.“ Zudem sei das Nissan-Werk das produktivste Europas. Kelly sagt, er glaube nicht, dass man diese Produktivität „ausgerechnet in Frankreich“ erreichen könnte. Aber was langfristig komme, sei ebenso unklar wie das, was London plane – wenn dort überhaupt geplant werde. „All die Verantwortlichen der Brexit-Lügenkampagne treten nach und nach zurück“, sagt Kelly. „Wenn die Politiker in den Hauptstädten sich nicht zusammenreißen können, dann müssen wir das eben in den Gemeinden selbst in die Hand nehmen.“


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