Die zierliche Schulleiterin ließ sich nicht provozieren. Sie suchte das Gespräch. Der Schüler sagte, er wolle nicht respektlos sein, niemanden beleidigen. Es sei halt die Religion. Lüdtke entschied, ihn nicht von der Abifeier auszuschließen. Sie wollte die Entscheidung des Schülers akzeptieren.
Das ist enorm. Denn wenn es darum geht, wer wem nicht die Hand geben will, regen sich derzeit zu viele Menschen zu schnell auf. Dann geht es gleich um "Werte" und um "uns" und "die anderen". Dann fallen Sätze wie: "Wer hier leben will, soll sich gefälligst anpassen". Dann geht es stets auch darum, ob der Islam zu Deutschland gehört, ob er überhaupt dazugehören kann und darf.
Es gibt verschiedene Meinungen dazu, ob strenggläubige Muslime allen Frauen die Hand schütteln dürfen. Vielleicht ging es hier aber gar nicht um den Islam. Vielleicht wollte ein Jugendlicher nur anecken und auffallen, wie das Jugendliche gelegentlich wollen. Und mit kaum einer anderen Geste sorgt man derzeit so leicht für Wirbel wie mit einem verweigerten Handschlag.
Lehrer wissen, wie man mit solchen und anderen Tabubrüchen umgeht. Sie kennen ihre Schüler. Sie wissen, bestenfalls, welche Strenge brauchen und welche ein offenes Ohr. Sie sollten Aufmüpfigkeiten durchschauen und verstehen, woher sie kommen und was sie sollen.
Lehrer müssen nicht alles durchgehen lassen
Rektorin Lüdtke hat das versucht. Sie hat ihren muslimischen Schüler ernst genommen. Sie hat nicht versucht, ihn zu verbiegen, damit er in ein vermeintlich deutsches Raster von Gepflogenheiten passt. Sie hat verstanden, dass Respekt nicht an einen Handschlag gekoppelt ist und dass nicht jeder zum frauenfeindlichen Extremisten wird, der sich mit einem Handschlag schwertut. In Japan verbeugt man sich voreinander. Das funktioniert auch.
Für ihre Entscheidung muss Lüdtke nun viel Kritik einstecken. Sieben von dreizehn Lehrern aus dem Abiturjahrgang boykottierten die Abifeier am Donnerstagabend aus Protest. Das kann man machen. Mal ein Zeichen setzen und so. Doch es straft auch die Schüler, die sich gefreut hätten, mit allen Lehrern das bestandene Abitur zu feiern. Und wem hilft es?
Lüdtke kam mit ihrer Art offenbar weiter. Der betreffende Schüler habe ihr bei der Feier doch noch die Hand gereicht, sagte sie dem "Hamburger Abendblatt".
Das heißt nicht, dass Pädagogen alles durchgehen lassen sollten. Mancher Tabubruch geht zu weit. Aber welcher das ist, das können Lehrer meistens gut selbst beurteilen. Deshalb brauchen wir auch keine Regeln, die für alle Schulen und für alle Schüler gelten. Was wir brauchen, ist die Bereitschaft zuzuhören und zu verstehen.
Egal ob sich ein Lehrer dann für Milde oder Strenge entscheidet: Wenn er sich vorher mit seinen Schülern auseinandergesetzt hat, sollten wir es unterlassen, ihn dafür anzufeinden und niederzumachen. Auch das ist ein Zeichen von Respekt.
Quelle : spiegel.de
Tags: