Wie ich im Hochsommer in einen Notfall geriet

  26 Juli 2016    Gelesen: 433
Wie ich im Hochsommer in einen Notfall geriet
Ausgerechnet am heißesten Tag des Jahres bleibt der Zug liegen, die Klimaanlage fällt aus. Panik droht. Doch es geschieht etwas Unerwartetes. Ein Lob auf die deutsche organisierte Hilfsbereitschaft.
Der Intercity hält mit einem quietschenden Ruck. Vor einer halben Stunde erst bin ich in Köln eingestiegen, habe eine Frau von meinem reservierten Platz verscheucht und mich mitsamt Koffer und Taschen an einem älteren Herrn vorbei auf meinen Fensterplatz gequetscht. Der Zug ist voll, einige Leute müssen stehen.

Die ganze Fahrt schon herrscht eine angespannte Stimmung. Es ist heiß, der heißeste Tag des Jahres, und die Klimaanlage schwächelt. Wer am Fenster sitzt, hat den Arm auf die Lüftung gelegt. Wer am Gang sitzt, zählt die Minuten.

Aus unbekannten Gründen sei man zum Stillstand gekommen, sagt eine Zugbegleiterin durch. Genervtes Stöhnen. Mein Sitznachbar atmet schneller. Bei der Fahrkartenkontrolle hat er erzählt, dass er schwerbehindert ist. Ob er Asthma hat?

Neue Durchsage. Sie wisse jetzt den Grund für die Vollbremsung, sagt die Zugbegleiterin. "Wir hatten soeben einen Unfall mit Personenschaden. Ich kann noch nicht sagen, wann es weitergeht."

Eigentlich müsste Panik ausbrechen

Allgemeine Unruhe. Seit wir stehen, ist die Klimaanlage ganz ausgefallen. Es sind bestimmt 30 Grad im Waggon, und durch die Fenster glüht die Nachmittagssonne. Rollos gibt es nicht. Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Die ersten Leute stehen von ihren Sitzen auf und gehen Richtung Tür, doch auch die ist zu. Wir sind eingesperrt.

Jetzt müsste eigentlich Panik ausbrechen. Doch es passiert etwas anderes. Wir fangen an, uns zu unterhalten. Ganz unverfänglich, darüber, was wohl passiert sein könnte. Dass sich vermutlich jemand vor den Zug geworfen hat. Dass gleich die Polizei kommen wird. Dass uns der Lokführer leidtut. Die geschlossenen Türen erwähnen wir nicht. Nur eine spricht aus, was alle heimlich denken: "Wenn der erste von uns umkippt, dann bricht hier das Chaos aus."

Als der erste Bahnmitarbeiter kommt, sind wir längst die verschworene Gemeinschaft von Wagen acht. Der Mann ist nervös, ganz offensichtlich darauf gefasst, von wütenden Fahrgästen mit Fragen überfallen zu werden, doch alle schweigen, als er Wasserpackungen verteilt. Wir reichen sie einander weiter, keiner drängelt, obwohl das Wasser lange nicht reicht. "Es kommt gleich noch mehr Wasser", sagt der Mann.

"So schnell kriegt man keinen Herzanfall"

Er wird in der folgenden Dreiviertelstunde mit seinen Kollegen unsere Befreiung in die Hand nehmen. Während draußen die Martinshörner heulen, wissen wir drinnen nicht, was los ist. Die Temperatur im Wagen steigt ständig. Die meisten triefen vor Schweiß. Fast alle drängen sich mittlerweile im Eingangsbereich, weil da ein bisschen Luft reinkommt durch das Toilettenfenster. Mein Sitznachbar, der so schwer atmet, ist sitzen geblieben. Er hält sich tapfer und tut, als bemerke er all die besorgten Blicke nicht.

Jeder versucht, sich nützlich zu machen. Der Mann im Anzug, der seine Jacke längst ausgezogen hat und sein Hemd im Laufe der nächsten Stunde immer weiter aufknöpfen wird, schaut aus dem Fenster und gibt Informationen weiter. "Jetzt suchen die Polizisten unter dem Zug, wahrscheinlich sind die Körperteile überall verstreut."

Die patente Mittfünfzigerin – bestimmt ist sie Krankenschwester – hat auf jede ängstliche Bemerkung einen Spruch parat. "Ach was. Wir sind ja erst 50 Minuten ohne Klimaanlage, so schnell kriegt man keinen Herzanfall."

Zwei Schülerinnen übersetzen den holländischen Touristen jede Durchsage ins Englische.

Eine Frau öffnet die automatische Tür zum Waggon wieder, wenn sie zufällt, jedes Mal, alle paar Sekunden, damit die sitzenden Fahrgäste wenigstens ein bisschen frische Luft erreicht.

"Du musst die Türen jetzt öffnen!"

Die Zeit dehnt sich. Es wird immer heißer. Das Wasser ist längst ausgetrunken. Bahnmitarbeiter eilen hektisch an uns vorbei, Schweißflecken auf der Uniform. Dann sagt die Zugchefin durch, dass sie jetzt die Türen öffnen würde. "Bitte steigen Sie auf keinen Fall aus und laufen auf die Gleise." Tatsächlich öffnet sich eine Tür. Doch die geht schnell wieder zu. Und irgendetwas beginnt zu piepsen, ein, zwei Minuten lang.

Das ist der Moment, in dem sich die Panik doch noch einschleicht. "Jetzt gehen die Türen gar nicht mehr auf", flüstert einer zwischen zwei Piepstönen, und ein anderer beginnt schon, nach dem Nothammer zu suchen.

Die Rettung kommt in Gestalt eines Bahnmitarbeiters. Als er das Piepsen hört, hängt er sich ans Telefon. "Du musst die Türen jetzt öffnen, wir brauchen hier Luft", schreit er in den Hörer. Nach ein paar atemlosen Sekunden gehen die Türen tatsächlich auf. Wir drängen uns davor. Endlich Frischluft.

Nur wenige Minuten später kommt die Durchsage, dass der Zug evakuiert wird. Alle müssen mit ihrem Gepäck in den vordersten Waggon. Keiner drängelt. Gleich mehrere von uns wollen meinem Sitznachbarn den Koffer tragen. "Vielleicht sind ja Sanitäter draußen, mit ein bisschen Sauerstoff", sagt er glücklich.

Draußen hat sich ein ganzes Heer von Helfern versammelt. Am Ausgang steht die Freiwillige Feuerwehr aus Sinzig und Bad Bodendorf Spalier. Ein Mann nimmt mir den Koffer ab, ein zweiter reicht mir die Hand, damit ich leichter aus dem Zug springen kann. Ein Dritter hat eine Leiter auf den abschüssigen Bahndamm gelegt, als provisorische Treppe.

Unten nehmen uns Sanitäter in Empfang. Meinen Sitznachbarn bringen sie gleich zum Rettungswagen, endlich kriegt er seine Sauerstoffmaske. Sie fragen alle, wie es ihnen geht, jeden Einzelnen der 600 Passagiere, die sich jetzt auf den Rasen neben dem Bahndamm setzen, neugierig beäugt von zahlreichen Fahrradfahrern, die auf der nahen Bahnbrücke stehen bleiben.

Es werden immer mehr Helfer. Die Firma Brohler spendet Wasserflaschen, ihre Mitarbeiter gehen durch die Reihen und verteilen sie großzügig. Es sind so viele, dass irgendwann keiner mehr Wasser will. Vielleicht auch, weil man in den Zug zurückmuss, um die Toilette benutzen zu können. Sogar darum kümmern sich die Feuerwehrleute. Sie haben eine Art Toilettentreppe eingerichtet und hieven jeden, der mal muss, in den Waggon zurück.

Auch das Rote Kreuz ist eingetroffen, Ehrenamtliche vom Technischen Hilfswerk laufen herum. Eine Kollegin von der "Rhein-Zeitung" führt Interviews. Ein paar Fotografen knipsen uns. So langsam werden wir zur Attraktion, während wir auf die versprochenen Busse warten. Als die nicht kommen, springen wieder die Ehrenamtlichen ein. Aus allen Dörfern trommeln Feuerwehr und DRK Mannschaftsbusse zusammen, fahren uns im Pendelverkehr zum nächsten Bahnhof nach Brohl. Dort warten noch mehr Helfer mit Wasser, die sich darum reißen, uns die Koffer zu tragen. Die Bahn hat einen Ersatz-Intercity geschickt, auf dem anderen Gleis wartet ein Regionalzug. Ein Bahnmitarbeiter schickt geduldig jeden in den richtigen Zug.

Es wird fast vier Stunden dauern, bis wir weiterkommen. Ich werde alle meine Anschlusszüge verpassen und spätabends mit dem Taxi in meiner Pension eintreffen. Tags darauf werde ich in der Lokalzeitung "Blick aktuell" lesen, dass einige Passagiere und sogar ein Helfer ins Krankenhaus mussten. Und dass die Frau, die vor den Zug geriet, tot ist. Doch an diesem Abend, als ich endlich in dem klimatisierten Regionalzug sitze, bin ich einfach nur dankbar für all die Hilfe. Und auch ein bisschen stolz auf uns vom Wagen acht. Manchmal, Deutschland, bist du schon verdammt gut organisiert.

Quelle : welt.de

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