Fischhold: Viele stellen Veränderungen an sich fest. Sie können nicht mehr schlafen oder haben Albträume. Sie mögen nicht essen, trauen sich nicht aus dem Haus, haben Flashbacks, plötzliche Schweißausbrüche. Diese sogenannte akute Belastungsreaktion ist heftig. Viele Münchner sind jetzt verunsichert oder verängstigt, egal ob sie die Tat direkt erlebt haben oder nicht.
SPIEGEL ONLINE: Was sagen Sie ihnen?
Fischhold: Erst einmal: Was sie erleben, ist bis zu einem gewissen Grad normal. Ein Vergleich: Wenn jemand auf eine heiße Herdplatte fasst, entwickelt sich eine Brandblase. Auch wenn sie die Hand schnell zurückziehen, ist sie da und schmerzt. Wer Todesangst erlebt, erleidet eine Verletzung an der Seele. Und die benötigt, genau wie die Brandblase, Zeit zum Heilen.
Ob dabei tatsächlich Lebensgefahr bestand oder nicht, ist irrelevant. Bei uns hat zum Beispiel eine Frau angerufen, die die Nacht zum Samstag in der Münchner Innenstadt am Stachus verbracht hat. Lange war unklar, ob es dort nicht auch eine Bedrohung gab. Sie fragte sich deshalb, ob sie nun überhaupt so neben der Spur sein dürfte, weil sie doch nie in Gefahr gewesen sei. Doch es ist völlig normal, dass auch sie die beschriebenen Symptome erlebt.
SPIEGEL ONLINE: Was unterstützt die Heilung?
Fischhold: Leichte körperliche Bewegung - schwimmen, laufen, spazieren - hilft, ein Trauma zu überwinden. Und natürlich hilft es, darüber zu sprechen. Ich frage die Menschen auch, was sie normalerweise machen, wenn Sie Stress haben. Von Alkohol oder Schlafmitteln rate ich ab. Wer partout nicht schlafen kann, steht am besten auf und macht etwas. Ein Bad nehmen, einen Film gucken, Fotos sortieren - was auch immer.
SPIEGEL ONLINE: Wie lange dauert es normalerweise, bis die Angst und die Unruhe verschwinden?
Fischhold: Den meisten geht es schon nach einigen Tagen wieder besser, was nicht bedeutet, dass sie die Ereignisse vergessen. Wer länger als drei oder vier Wochen leidet, sollte eine Trauma-Ambulanz aufsuchen und sich professionelle Hilfe zur Heilung holen.
SPIEGEL ONLINE: Manche überstehen ein traumatisches Ereignis sehr gut, andere nicht. Psychologen sprechen von Resilienz, der Fähigkeit, Krisen gut zu verarbeiten. Wieso haben einige davon mehr und andere weniger?
Fischhold: Das hängt sicher damit zusammen, wie man insgesamt im Leben da steht. Wie stützend das Umfeld ist. Ob man schon andere Krisen erlebt und gemeistert hat. Für manche war zum Beispiel klar, dass sie gleich am Montag wieder arbeiten gehen, während andere das nicht getan haben. Wichtig ist: Es gibt da kein richtig oder falsch, kein stark oder schwach, sondern nur ein unterschiedlich.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es keinen Schnellkurs für Resilienz?
Fischhold: Um es wieder mit einem körperlichen Phänomen zu vergleichen: Eine Verletzung, die einen Untrainierten vielleicht zwei Monate an Krücken fesselt, hält einen Profifußballer nur zwei, drei Wochen vom Training ab. Profifußballer werden Sie auch nicht über Nacht.
SPIEGEL ONLINE: Reagieren die Menschen auch mit anderen Emotionen auf den Amoklauf?
Fischhold: Manche Anrufer sehen Ihre Vorurteile bestätigt, bringen rechtsradikale Parolen. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, ein vertrauensvolles Verhältnis zu bewahren und nicht in Fremdenfeindlichkeit abzurutschen. Man muss sich klarmachen: Die allermeisten Flüchtlinge wollten Terror und Gewalt entkommen. Da sitzen wir im selben Boot.
Quelle : spiegel.de
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