Je suis Helene

  30 Juli 2016    Gelesen: 574
Je suis Helene
Den Zeichen der Zeit auf der Spur: Jens Balzers Panorama des Gegenwartspop meditiert über das Ende des Patriarchats.
Ausgerechnet Helene Fischer. Die singende Sagrotanflasche. Die Frau, die die Kulturkritik durch ihre schiere Existenz vor Herausforderungen gestellt hat: Wann genau ist aus Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll eigentlich Veganismus, Laktoseintoleranz und Helene Fischer geworden? Ein Buch über Gegenwartspop mit Helene Fischer beginnen zu lassen zeugt, neben Chuzpe, von ausgeprägter Unerschrockenheit in Geschmacksfragen. Doch zum einen handelt es sich zweifelsfrei um einen hochaktuellen Stoff. Und zum Zweiten ist Jens Balzer kein Mann, der vor Krisenphänomenen davonläuft.

Statt seiner Leserschaft kulturpessimistisch zu kommen, sieht er dem Sturm ins Auge. Er ist vor Ort, wenn die Künstlerin auf einer goldenen Blechgans vom Bühnenhimmel geschwebt kommt. Er steht in der Menge, wenn Rihanna, Lady Gaga oder andere Schwestern im Geiste sich tanzend und singend durch Pappmaschee-Kulissen manövrieren. Er treibt sich im Berghain herum, in dessen von Türstehern bewachten Katakomben letzte öffentlichkeitsferne Kulte gepflegt werden. Balzer, stellvertretender Kulturressortleiter der Berliner Zeitung, ist der Frontberichterstatter unter den Popkritikern: Unbeirrt zieht er seine Kreise durch Clubs, Klitschen und Mehrzweckhallen, immer den Zeichen der Zeit auf der Spur.

Dass die Lage komplex ist, liegt in der Natur der Sache. Seine schlicht Pop betitelte Bestandsaufnahme spielt in den entfesselten Welten des Digitalzeitalters. Die letzten Bastionen des 20. Jahrhunderts sind geschleift, was einmal mit Form und Ort versehen war, hat sich zu einer universellen, von keiner stilistischen oder inhaltlichen Idee zusammengehaltenen Dauergegenwart verflüssigt. It’s a strange, strange world. Entsprechend locker die Anlage: Historische Herleitungen spielen eine untergeordnete Rolle, es bleibt bei einer Tour d’Horizon, die den Ist-Zustand beispielhaft, aber in erstaunlicher Bandbreite auffächert – vom fischerschen Stadionschlager über Neo-Rock-’n’-Roll, Freak Folk, Drone Metal und diverseste Spielarten elektronischer Musik hin zum Neuesten aus R’n’B und HipHop und wieder zurück.

Schön muss nicht sein, was dabei zur Sprache kommt, Hauptsache, es schillert. Es ist der Anspruch auf absolute Modernität, der sich in Balzers Frontberichten Bahn bricht. Dass manches vertraut klingt, liegt an der Entstehungsgeschichte: Das Buch basiert auf Konzertkritiken, die er über zwei Jahrzehnte hinweg in Diensten der Berliner Zeitung geschrieben hat. Und ist doch weit mehr als ein Best of Balzer. Während in seinen journalistischen Arbeiten ein ebenso trockener wie durchtriebener Berichtston vorherrscht, der seine Urteile aus der Anschauung fällt, tritt hier der Analytiker in den Vordergrund. Balzer bringt zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört, er schafft Verbindungslinien und legt Sichtachsen frei. Aus dem permanenten Hin-und-her-Wenden des Materials ergibt sich – nein, kein Generalbefund, aber eine Reihe von Diagnosen.

In seiner vordergründigsten Lesart erzählt der postmillenarische Pop vom Niedergang des heterosexuellen Mannes. Ein letztes Mal betrat er die Bühne, als Bands wie The Strokes oder The Libertines das Revival alter Rock-’n’-Roll-Werte einläuteten, doch was als Wiederkehr begrüßt wurde, war in Wahrheit bereits ein Endspiel. Parallel zum Abdanken der sogenannten The-Bands vollzog sich der Aufstieg einer neuen Sorte starker Frauen, exemplarisch verkörpert durch Amy Winehouse und Adele. Erstere teilte mit Libertines-Frontmann Pete Doherty noch die Neigung zu Akten der Jugendverschwendung, Letztere etablierte sich trotz tränenreich besungener Verlusterfahrungen als beispielgebende Herrscherin über ihr Schicksal. In Balzers Worten: "Mit Adele wurde heroische Feminität zum erfolgreichsten popkulturellen Modell einer Gegenwart, der die Lust des vorangegangenen Jahrzehnts an der männlichen wie weiblichen Selbstzerstörung abhanden gekommen ist."

Die auseinanderstrebenden Stilwelten des Pop haben nämlich doch etwas gemeinsam: Sie reagieren in unterschiedlicher Weise auf deregulierte Verhältnisse. Da wären auf der einen Seite die Akzelerationisten: Produzenten-DJs wie der Amerikaner Skrillex werfen sich der Entwicklung gleichsam entgegen, indem sie die rasenden Zeichenwirbel der Digitalmoderne in ihrer Musik verdoppeln. Ganz anders die Entschleuniger. Sie kultivieren eine Haltung lustvoll-regressiven Gewährenlassens, die sich musikalisch in zum Ersterben zart gehauchten Gesängen zur Folkgitarre und stilistisch in einer wild wuchernden Gesichtsbehaarung ausdrückt. In den modisch folgenreichen Selbstinszenierungen von Hippiewiedergängern wie Devendra Banhart sieht Balzer "Bärte des Werdens oder Bärte des Wartens" am Werk. Anders nämlich als zu Grunge-Rock-Zeiten sind diese gleichsam rhizomatischen Kräuseleien kein Zeichen naturbelassener Männlichkeit, sondern Ausdruck einer neuen Langsamkeit: Herzinfarkte sollen gefälligst die anderen kriegen, die Alphamännchen, Weltbeweger und Testosteronbolzen, wer seinem Bart beim Wachsen zusieht, sündigt zumindest nicht. Man könnte auch sagen: Die Identifikation dieser Männer mit ihrem Geschlecht ist so gering geworden, dass ein Penis auf erkennbare Weise nicht mehr vorhanden ist.


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