“Hätte ich Hitler damals doch nur ertränkt“

  01 Auqust 2016    Gelesen: 1164
“Hätte ich Hitler damals doch nur ertränkt“
Vor 80 Jahren begannen die Olympischen Spiele in Berlin. Adolph Kiefer ist der letzte lebende Goldmedaillengewinner. Damals gab der heute 98-Jährige dem Diktator bei einem Fototermin die Hand.

Noch immer lächelt er wie ein Sonnyboy. So wie einst, als er mit seinem jugendlichen Adoniskörper rasant das Wasser durchpflügt hat. So schnell wie kein anderer Mensch des Universums. Adolph Kiefer war Rückenschwimmer. In seiner langen Karriere von 1935 bis 1944 markierte der Amerikaner 17 Weltrekorde über die unterschiedlichsten Strecken. Mit der von ihm kreierten "Kiefer-Wende" revolutionierte er seine Stilart.

Den größten Triumph feierte er bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, die am 1. August vor 80 Jahren im Olympiastadion eröffnet wurden. Der mit 18 Jahre Jüngste des US-Teams gewann über 100 Meter Rücken. Es ist der einzige noch lebende Olympiasieger von damals. Das Erinnerungsvermögen des in Wadsworth/Illinois lebenden Unternehmers ist phänomenal.

Die Welt: Mister Kiefer, der letzte lebende Olympiasieger ...

Adolph Kiefer: ... ist das nicht großartig? Mich macht das stolz. Unlängst sollte ich dafür einen Award bekommen, doch ich habe ihn abgelehnt. Ich sagte denen, dass ich diese Auszeichnung nicht verdient hätte. Wenn einer einen Award verdient hat, ist es Jesse Owens ...

Die Welt: ... der Megastar der Spiele von Berlin. Der vierfache Sprint-Olympiasieger lebt aber nicht mehr, er starb bereits im März 1980.

Kiefer: Das ist doch egal. Jesse war der Hero. Ich bin mit ihm aufgewachsen. In Berlin hat er mich an die Hand genommen, ich war ja das Küken in der Mannschaft, und mir im olympischen Dorf all die großen Athleten gezeigt. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Später machten wir auch gemeinsam Business. Man kann doch Jesse postum ehren, oder?

Die Welt: Klar.

Kiefer: Genauso wie Avery Brundage, er hätte auch eine Ehrung verdient.

Die Welt: Brundage war damaliger Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der USA und von 1952 bis 1972 Präsident des Internationalen Olympischen Komitees.

Kiefer: Ohne seinen Einfluss, sein Verhandlungsgeschick, wären wir nicht nach Berlin gereist. In der deutschen Mannschaft sollten ja auf Geheiß Hitlers keine Juden starten dürfen. Darum wollte unser Olympia-Komitee die Spiele boykottieren. Doch Brundage machte es möglich, den Boykott abzuwenden. Bis zum Abreisetag mit dem Schiff wussten wir noch nicht, woran wir sind. Ich bin so froh, dass ich starten durfte. Überlegen Sie mal, wenn das nicht so gekommen wäre, hätte es mich nie als Olympiasieger gegeben, und wir würden jetzt nicht miteinander reden.

Die Welt: Stimmt. Dabei ist es so interessant, mit jemandem zu reden, der aus einer Zeit stammt, über die man sonst nur noch aus Büchern erfährt.

Kiefer: Das freut mich, wenn Sie das so sagen. Ich danke Gott jeden Tag, dass er mir dieses lange Leben geschenkt hat.

Die Welt: Denken Sie noch oft an die Spiele von Berlin?

Kiefer: Irgendwie sind sie immer präsent. Sie waren nun mal das Highlight meiner Sportlerkarriere. Überhaupt nur dabei zu sein, wäre schon ein unvergessliches Erlebnis gewesen. Als Teenager ging ich auf Weltreise. Stellen Sie sich das mal vor – unglaublich! Für mich war alles megaspannend. Ich war so überwältigt, dass ich öfter weinen musste. Wir reisten mit dem Schiff nach Deutschland.

Die Welt: Wann ging`s los?

Kiefer: Am 15. Juli legten wir in New York ab, nach sechs Tagen kamen wir in Hamburg an, von wo aus es weiter mit dem Zug nach Berlin ging. Toll fand ich diese Straße am Olympiastadion, die heute Jesse-Owens-Allee heißt. Zum ersten Mal gab es einen olympischen Fackellauf mit dem Entzünden des Feuers im Stadion. Bei der Eröffnungsveranstaltung in dieser traumhaften Arena marschierten wir als vorletzte Nation vor Deutschland ein. An der Ehrentribüne, auf der Hitler und seine Nazis saßen, gingen wir ganz schnell vorbei. Wir hoben auch nicht die Hand zum olympischen Gruß, der dem Hitlergruß zum Verwechseln ähnlich sah, und senkten auch nicht – wie sonst üblich – unsere Fahne.

Die Welt: War Ihnen bewusst, warum Sie das nicht taten?

Kiefer: Nicht wirklich, das muss ich zugeben. Ich war 18 und machte mir um politische Dinge noch keine großen Gedanken. Ich wollte nur schwimmen, danach war ich wirklich verrückt. Von klein auf ging mein Vater mit mir am Sonntag nach der Kirche zum Lake Michigan zum Schwimmen. Mein Vater starb, als ich elf war. Damals traf ich für mich die Entscheidung, der beste Schwimmer der Welt zu werden. Mit 15 Jahren stellte ich meinen ersten Weltrekord auf (strahlt übers ganze Gesicht). Raten Sie mal, wie viel Rennen ich in meiner Karriere verloren habe.

Die Welt: Oh, vielleicht drei?

Kiefer: (lacht) Nicht schlecht. Von etwa 2000 Rennen habe ich nur zwei verloren. Was sagen Sie nun?

Die Welt: Glückwunsch – sehr beeindruckend. Aber noch mal zurück zu Berlin 36, den Nazispielen.

Kiefer: Woran ich mich noch sehr gut erinnere, sind diese vielen Hakenkreuze. Überall waren die zu sehen, wohin man auch schaute. Es müssen Millionen und mehr gewesen sein. Das war unheimlich und machte einem irgendwie Angst. Im Jahr vor den Spielen war ich das erste Mal in Deutschland auf Wettkampftournee. Dort traf ich einen meiner Cousins.

Die Welt: Ihre Mutter kam aus Stuttgart, der Vater stammt aus dem Elsass.

Kiefer: Richtig. Und der Cousin, der an einer Schule unterrichtete, erzählte mir, dass Hitler Bücher von ihm verbrennen ließ. Gewundert habe ich mich auch über die Davidsterne, die ich an vielen Geschäften sah. Was das in der Konsequenz bedeutete, war mir damals überhaupt nicht bewusst. Am Schwimmbecken im olympischen Dorf, das mir sehr gut gefiel, traf ich auch Hitler. Ich gab ihm die Hand, wir machten ein gemeinsames Foto. Sein Dolmetscher sagte mir, dass er recht gut über mich Bescheid wusste. Im Jahr zuvor bin ich in Deutschland Weltrekorde geschwommen, vielleicht deshalb, wer weiß. Im Nachhinein habe ich mir oft gesagt: Hätte ich Hitler doch nur ins Becken geworfen und ertränkt. Viel, viel Leid wäre uns erspart geblieben.

Die Welt: Genau zwei Wochen nach der Eröffnung wurden Sie dann überragend Olympiasieger. Im Vor-, Zwischen- und Endlauf verbesserten Sie jedes Mal den olympischen Rekord. Mit Ihrer Siegerzeit von 1:05,9 Minuten lagen Sie fast zwei Sekunden vor Ihrem Landsmann Albert Vande Weghe.

Kiefer: Als ich aus dem Becken stieg, warf mir einer meiner Verwandten, von denen ich viele in Deutschland hatte, einen riesengroßen Blumenstrauß zu. Davon gibt es auch Fotos. Das werde ich auch nie vergessen. Im Stadion saßen 20.000 Zuschauer, was mich vor dem Start ganz schön nervös machte. Ich war noch nie vor so vielen Menschen geschwommen. Entscheidend war, dass ich mich nicht dazu verleiten ließ, zu schnell anzugehen. Als ich ins Wasser stieg, spürte ich, dass ich gewinne werde. Größer hätte der Vorsprung dann auch kaum sein können. Schade, dass ich wegen des Weltkrieges nicht noch einmal an den Spielen teilnehmen konnte und die 200 Meter Rücken erst wieder 1960 ins Programm aufgenommen wurden. Ich wäre bestimmt der erfolgreichste Schwimmer aller Zeiten geworden.

Die Welt: Das ist inzwischen Ihr Landsmann Michael Phelps mit 18 Goldmedaillen. In Rio wird er zum vierten Mal bei Sommerspielen starten.

Kiefer: Er ist ein wunderbarer Schwimmer, ein Vorbild an Leistungsfähigkeit. Er ist der absolut Größte, größer als Mark Spitz, und wird auf Jahrzehnte unerreichbar bleiben. Ich freue mich schon jetzt auf Rio, weil er dort noch einmal schwimmen wird. Ich werde mir alles anschauen. Leider kann ich nicht vor Ort sein, da ich nicht mehr reisen darf. Sonst würde ich auch noch mal nach Deutschland kommen. Schade. Michael startet in Rio viermal und wird genauso oft gewinnen. Ich wünschte mir, ich könnte noch so schnell schwimmen wie er.

Die Welt: Schwimmen Sie noch?

Kiefer: Natürlich, jeden Morgen nach dem Aufstehen so gegen neun Uhr. Ich habe zu Hause einen Pool, in dem ich täglich 45 bis 60 Minuten auf dem Rücken schwimme. Ich nenne das "Victory Backstroke". Ich bin ja auch noch Berater meiner beiden Firmen, die ich vor Kurzem verkauft habe, und an denen ich noch zehn Prozent halte. Wir produzieren für den weltweiten Markt diverse Artikel für den Schwimm- und Tauchsport. Übrigens entwickelte meine Company einst auch den Weitsprungbalken, der bei einem übertretenden Sprung ein Signal abgibt.

Die Welt: Wer so aktiv ist wie Sie, wird ganz bestimmt auch 100 Jahre.

Kiefer: Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will. Wenn man im Rollstuhl sitzt, schränkt das mit zunehmendem Alter immer mehr ein. Mein Wohlfühlgefühl ist sehr schwankend. Ich kann nicht aufstehen, muss meine Füße wickeln, hatte eine gebrochene Hüfte, ein gebrochenes Bein und habe Prostatakrebs. Und vor einem Jahr starb auch noch das wunderschönste Mädchen der Welt, meine Frau Joyce. Sie wurde 94. Wir waren 75 Jahre verheiratet, haben zusammengearbeitet und waren sehr erfolgreich. Ich muss so oft an sie denken. Ich weiß, sie wartet oben auf mich. Da kann ich nicht noch ewig hier unten bleiben (lacht). Wer weiß, wie viel Zeit der liebe Gott mir noch gegeben hat. Egal, wann es passiert, ich hatte ein fantastisches Leben.

Die Welt: Was wünschen Sie sich?

Kiefer: Ich möchte noch viel mehr Menschen dazu animieren, Rettungsschwimmer zu werden. Denn es gibt einfach zu viele Menschen, die ertrinken. Und dann würde ich so gerne dabei mithelfen, dass alle Schulkinder ein Bewusstsein für Gesundheit und Fitness entwickeln. So wie zu Zeiten von John F. Kennedy, der ein guter Freund von mir war. Wir müssen die Kinder vom Fernseher und von der Fettleibigkeit abhalten, sonst sehe ich für die Zukunft unserer Gesellschaft schwarz.

Quelle: welt.de

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