An der Rezeption bittet ein Russisch sprechender Gast um Auskunft. Die junge Hotelangestellte entschuldigt sich bei ihm auf Englisch, dass ihre Russischkenntnisse nicht ausreichend seien und bittet ihren älteren Kollegen um Hilfe. Der erste Blick aus dem 18. Stockwerk des Hotels gibt einen ersten Eindruck von Tallinn, der Hauptstadt Estlands: eine Mischung aus Nachkriegsbauten, einem schönen Altstadtkern, modernen Häusern und alten Fabrikgebäuden.
Am nächsten Morgen geht es in die alte Universitätsstadt Tartu, die zweitgrößte Stadt des Landes. Der Weg dorthin führt über endlos erscheinende Landstraßen, hier und da ist ein Haus zu sehen. Bäume links und rechts und kein Hügel in Sicht. Die Landschaft erinnert an Schweden. Aber hier hält sich niemand an Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Der Bürgermeister von Tartu, Urmas Klaas, ist jung und wirkt sehr dynamisch. Er freut sich über den deutschen Besuch. Er spricht selbst fließend Deutsch und ist von seiner Stadt überzeugt. Während seiner Ausführungen schlägt er immer wieder mit der Faust auf den Tisch und übertönt damit sogar die alte Turmuhr seines Rathauses.
Viel Zeit hat er nicht, er müsse schnellstens zu einem anderen Termin an der Universität. Tartu, das sei wie Cambridge. Aber ohne Ausländer, wie ich feststellen muss. Die Studenten, die mir begegnen, sehen allesamt europäisch aus. Mir wird bestätigt, dass es nur sehr wenige Ausländer dauerhaft nach Estland ziehe. Für Flüchtlinge wäre es schwer in Estland. Man müsse direkt damit beginnen, zu arbeiten und soziale Unterstützung gebe es so gut wie keine. Eine andere Hürde sei die estnische Sprache, die dem Finnischen ähnle und nicht so leicht zu erlernen sei.
Jetzt endlich, nach Jahren des Wartens, werde Estland mit einem eigenen Nationalmuseum auch seine Identität finden und diese zeigen können. So leitet der Museumsführer in spe eine Privatführung der noch nicht eröffneten Einrichtung ein. Ausgestellt wird eine Mischung aus Tradition und Moderne: alte Lebensmittelprodukte, Plakate, ein bisschen Kultur. Wie sich all dies genau zusammenfügt, bleibt jedoch unersichtlich.
Vieles ist zu diesem Zeitpunkt noch in Kisten verpackt. Der Museumsführer lehnt sich an den ersten Geldautomaten, den es in Estland gab, und der ein wichtiger Teil der Ausstellung sei. Das Gebäude ist modern und imposant. Es entstand aus einem Architekturwettbewerb heraus auf dem Grundstück eines ehemaligen sowjetischen Militärflughafens. Am 1. Oktober sollte die Eröffnung stattfinden.
Ich mache eine Führung durch den alten Teil Tartus mit und bewundere die kleinen bunten Holzhäuser mit ihren Apfelbäumen davor. Alles wirkt sehr idyllisch. Überall stehen Körbe voller Äpfel, aus denen man sich im Vorbeigehen bedienen kann, und wir betreten fremde Gärten und Häuser, ohne Aufsehen zu erregen.
Ein Besuch an der Grenze zu Russland zeigt ein anderes Gesicht Estlands. Meine Bekannte Hannah fährt mit mir an der Zwiebelroute entlang. So nannten die Esten die Straße im Osten, an der, in Richtung Norden führend, viele Russen Zwiebeln verkauften. Und tatsächlich gibt es immer noch Stände, an denen Zwiebeln verkauft werden. Bei zu schneller Geschwindigkeit arbeitet sie zwei Stunden lang an ihrem Make-Up. Wir hören hippe estnische Musik aus Tallinn und schalten zwischendurch immer wieder mal auf einen russischen Radiosender mit Popmusik um.
Hannah hat russlanddeutsche Vorfahren und ein Teil ihrer Familie lebt noch jenseits der Grenze in der Russischen Föderation. Sie findet es schikanös, sich immer wieder um ein Visum bemühen zu müssen, nur um ihre Großmutter besuchen zu können.
Unbeschadet erreichen wir Narva. Narva klingt für mich wie märchenhafter Ort. Tatsächlich gibt es hier aber keine Träume mehr. Dieser Ort scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Eine ehemals lebendige Industriestadt mit größtenteils russischstämmigen Einwohnern ließ nach dem Rückzug der Russen die Anwohner ohne Arbeit zurück.
In Krenholm, einer verlassenen Textilfabrik des Ortes, treffen wir eine ehemalige Fabrikarbeiterin, die heute in dem der Fabrik angeschlossenen Museum eine Anstellung gefunden hat. Sie spricht nur Russisch und kein Estnisch. Krenholm wurde 1857 ursprünglich von einem deutschen Baumwollfabrikanten aus Bremen gemeinsam mit zwei russischen Fabrikanten erbaut. Sie führt uns mit Stolz durch die verfallenen Gebäude - in für sie bessere Zeiten. Die Fabrik beschäftigte zu Sowjetzeiten bis zu 12.000 Mitarbeiter. Heute gibt es nur noch in einem Gebäude eine Handvoll Menschen, die dort arbeiten.
Aber auch hier sind die Kisten schon gepackt und die noch Übrigen werden in den nächsten Wochen ausziehen. Von dem Gelände aus ist ein gläserner Tunnel zu sehen, der hoch über dem Grenzfluss schwebt und Fußgängern den Grenzübertritt erleichtern soll. Doch sind die erforderlichen bürokratischen Regelungen bisher noch nicht getroffen worden, um diesen zu gewährleisten. Eine andere Brücke, die früher einen kurzen Fußweg ermöglichte, ist verfallen und liegt im Flussbett. Auf dem Weg zurück passieren wir verfallene Dörfer, die aussehen, als sei gerade erst ein Krieg zu Ende gegangen.
Das Partarei-Gefängnis, an Tallinns Ostseeküste gelegen, eröffnet einen Blick auf die Grausamkeiten der Geschichte bis in die jüngste Zeit hinein. Ursprünglich vom russischen Zaren Nikolaus I. als Verteidigungsburg erbaut und 1840 fertiggestellt, wurde das Areal von 1920 bis 2002 als Gefängnis genutzt. Eine robuste Frau führt die Tour durch das klamme Gebäude an, die sich mit der Geschichte des Gefängnisses eingehend befasst hat und in ihrem Redefluss nicht einmal mehr Atem holen muss.
In einer kleinen Zelle stehen Stockbetten eng aneinandergereiht, eine Toilette in der Ecke, ein Waschbecken und eine Bank mit einem kleinem Tisch. Den Insassen war es verboten, während des Tages zu schlafen, die überfüllten Zellen aber boten kaum Möglichkeit, sich zu bewegen. Die Zeit an der frischen Luft war begrenzt. Die Menschen mussten in Käfigen im Kreis laufen und wurden mit lauter Musik beschallt. Unter einem Apfelbaum, der heute noch Früchte trägt, war der Hinrichtungsplatz der Nazis. Nach den Nazis von 1944 bis 1991 wurde das Gefängnis von den Sowjets genutzt. Hinrichtungen fanden immer noch statt, im Regelfall durch Erhängen oder Vergiftung.
Auch der Onkel der Museumsführerin musste hier sein Leben lassen, verriet sie. Krankheiten waren in dem ungesunden Klima an der Tagesordnung. Und diejenigen, die ihre Haftstrafe überlebten, waren anschließend Krüppel. Viele verstümmelten sich selbst, nur um einige Zeit in der Krankenstation verbringen zu können. Im Gefängnis finden sich auch Schmierereien und Wandbemalungen aus jüngster Zeit, von "Obama-Care" bis hin zu "I love Soviet Times". Auch einige Kunstschüler durften sich in den Räumlichkeiten verewigen.
Die Museumsführerin stellt fest, dass es erstaunlich sei, dass keiner der Überlebenden Geistergeschichten aus der Vergangenheit zu berichten habe. Die Altstadt hingegen sei voll davon. Dieser Ort hingegen scheint selbst für Geister zu ungemütlich zu sein. Heute versucht die Stadt, in einem Teil des leerstehenden Gebäudekomplexes kulturelle Veranstaltungen zu organisieren. Ein paar gut aussehende Tallinner räumen gerade die Überreste einer Partynacht weg. Das Gelände verlassend gelangt man an eine Strandbar, die mit Fritz Kola wirbt. Ein paar Schritte weiter findet sich das Schiffsmuseum, welches Militärboote ausstellt.
Auf dem Marktplatz der pittoresken Altstadt Tallinns ist eine Bühne aufgebaut. Drei Kinder in Verkleidung tanzen zu orientalischer Musik und die Esten beäugen gespannt und mit aufmerksamem Blick die fremde Kultur beäugend.
Estland könnte zweifelsfrei in Zeiten fehlender Verständigung zwischen Russland und Europa eine Brücke sein. Doch scheint es innerhalb der Bevölkerung und des Landes selbst eine große Kluft zu geben. Die einen wollen zurück in alte Zeiten, die anderen blicken nach Brüssel. Seit 2004 ist Estland Teil der EU und NATO-Mitglied. Im kommenden Jahr wird Estland die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen.
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