Einwanderer, kommt nach London!

  12 November 2016    Gelesen: 499
Einwanderer, kommt nach London!
Die britische Wirtschaft fordert Spezial-Visa für ausländische Arbeitnehmer in der Hauptstadt London. Sie will auf keinen Fall die Immigration einschränken. Das steht quer zur neuen Regierungslinie.
In der U-Bahn der britischen Hauptstadt hängen diesen Herbst großformatige Plakate, auf denen steht: „London, everyone welcome“. Knapp fünf Monate nach dem Brexit-Referendum ist das in Großbritannien keine Selbstverständlichkeit.

Die stark gestiegene Migration aus anderen EU-Mitgliedsländern, vor allem aus Osteuropa in den vergangenen Jahren, war ein Hauptgrund dafür, warum mehr als 17 Millionen Briten für den Austritt aus dem europäischen Staatenbund gestimmt haben. Aber im kosmopolitischen London, wo rund jeder Dritte keinen britischen Pass hat, ist Multikulturalität kein Schrecken, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Jetzt prescht die Wirtschaft in der brisanten Einwanderungsdebatte vor: Die Londoner Handelskammer fordert ein eigenes Visa-System für die Metropole. Für die Hauptstadt sollen in Zukunft weniger restriktivere Einwanderungsbestimmungen gelten als für den großen Rest des Landes.

Ein Viertel der Erwerbstätigen sind Migranten

Migranten könnten eine spezielle Arbeitserlaubnis nur für das Stadtgebiet Londons erhalten. „Die Einwanderung hat über die Jahrhunderte hinweg die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Londons gestärkt und es zu der großartigen Stadt gemacht, die es heute ist“, sagte Colin Stanbridge, der Geschäftsführer der Handelskammer.

Es sei unverzichtbar, dass der Hauptstadt „eine gewisse Flexibilität“ eingeräumt werde, wenn die britische Regierung wie angekündigt nach dem Brexit die Einwanderungsregeln verschärfe, fordert der Wirtschaftslobbyist. Die Handelskammer mahnt, dass Weltoffenheit Teil des Geschäftsmodells von London sei. Auf die Metropole mit ihren 8,6 Millionen Einwohnern entfällt immerhin mehr als ein Fünftel des britischen Bruttoinlandsprodukts.

In einer Studie rechnet die Handelskammer vor, wie wichtig die ausländischen Arbeitskräfte sind: Migranten machen in London rund ein Viertel aller Erwerbstätigen aus. Vor allem die Finanzbranche und die Bauindustrie sind stark von diesen Arbeitskräften abhängig. Die ausländischen Londoner bezahlen jährlich geschätzte 7 Milliarden Pfund (8,1 Milliarden Euro) an Einkommensteuer und Sozialversicherungsbeiträgen und damit mehr als sie an staatlichen Leistungen in Anspruch nehmen. Zur Wirtschaftsleistung der Hauptstadt steuern sie der Studie zufolge jährlich 26 Milliarden Pfund bei. Eine Beschränkung der EU-Einwanderung würde dagegen zu milliardenschweren Einbußen für die Londoner Wirtschaft und den britischen Fiskus führen.

Aber wären die geforderten London-Visa in der Praxis überhaupt möglich? Schließlich ist die Metropole kein Stadtstaat wie Singapur oder Monaco. „Das Einwanderungssystem würde dadurch komplizierter“, sagt Madeleine Sumption, die Direktorin des Migrationsforschungsinstituts der Universität Oxford. „Aber praktisch möglich wäre eine Sonderregelung für London schon“. Bereits heute gebe es in Großbritannien eingeschränkte Visa, die es Migranten beispielsweise nur erlaubten für einen bestimmten Arbeitgeber zu arbeiten. „London-Visa wären eine perfekte Lösung“, glaubt der Hauptstadtexperte Tony Travers von der London School of Economics.

Eine ganz andere Frage ist freilich, ob die Ausnahmeregel politisch durchsetzbar wäre. Beim Londoner Bürgermeister Sadiq Khan rennt die Wirtschaft der Stadt mit ihrer Forderung zwar offene Türen ein. Khan hat sich selbst für eine solche Lösung stark gemacht. Beim EU-Referendum stimmte eine klare Mehrheit der Londoner gegen den Brexit. Aber die britische Regierungschefin Theresa May hat eine völlig andere Agenda: Wer sich als Bürger der Welt ausgebe, der sei in Wahrheit ein „Bürger von Nirgendwo“, sagte May vergangenen Monat in einer Parteitagsrede. In den Londoner Banken und Konzernzentralen sorgte diese neue Tonlage für blankes Entsetzen - auf dem Parteitag der Tories bekam die Premierministerin dafür tosenden Applaus.


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