Schon wieder, gefühlt zum 150. Mal im russisch-ukrainischen Krieg, ist von einer "entscheidenden Woche" mit Blick auf die Einstellung der Kampfhandlungen die Rede. Nach den ersten direkten russisch-ukrainischen Verhandlungen seit Frühjahr 2022 soll nun US-Präsident Donald Trump an diesem Montag sowohl mit Kremlherrscher Wladimir Putin als auch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefonieren. Auf diese Telefonate dürften wieder einmal euphorische Äußerungen aus Washington folgen - nach dem Motto "der Frieden ist näher als je zuvor". Allerdings dürfte der tatsächliche Fortschritt genauso klein sein wie nach den Gesprächen von Istanbul.
Kaum etwas ist verständlicher als der allgemeine Wunsch nach einer Waffenruhe. Es ist zwar eindeutig falsch, wenn Vertreter der US-Administration den Krieg als "sinnlos" bezeichnen. Denn er hat einen Sinn: Für die Ukraine geht es um das Überleben der eigenen Staatlichkeit und auch der ukrainischen Nation. Russland seinerseits strebt die Erweiterung seiner Einflusszone sowie seines Territoriums an und will sich zudem wieder als Großmacht etablieren.
Dies ist auch der Grund, warum es bislang keine Lösung für diesen seit elf Jahren andauernden Konflikt gab. Zugespitzt formuliert: Wenn die Ukraine die Ukraine für die Ukraine hält und Russland dagegen der Ansicht ist, die Ukraine sei eigentlich Russland, kann man sich nicht irgendwo in der Mitte treffen. Das heißt im Klartext: Viel mehr als ein befristeter Waffenstillstand ist am Ende der aktuellen Konfliktphase nicht zu erwarten, wann auch immer es dazu kommt.
Für Putin ist die Situation gemütlicher
Deswegen stellt sich die auf den ersten Blick berechtigte Frage: Könnte man das Sterben nicht wenigstens pausieren lassen? Schließlich ist die militärische Situation weitgehend festgefahren, Russland erzielt nicht einmal ansatzweise die Erfolge, die es gerne gehabt hätte.
Die kurzen Verhandlungen von Istanbul haben einige Antworten darauf gegeben, auch wenn die Ukraine sehr vorsichtig mit der Kommentierung deren Verlaufs umgeht - wohl deswegen, um Trump nicht zu verärgern. Der vereinbarte große Gefangenenaustausch, bei dem es um jeweils 1000 Ukrainer und Russen geht, soll dabei nicht täuschen und war eigentlich genau so zu erwarten. Jeder Gefangenenaustausch ist an sich eine gute Nachricht - und es ist insgesamt eine der wenigen positiven Entwicklungen an diesem Krieg, dass auch abgesehen von den Gesprächen in Istanbul Gefangene regelmäßig ausgetauscht werden, obwohl nicht in einer solchen Größenordnung. Bei diesem Thema stehen Militärgeheimdienste Russlands und der Ukraine ohnehin im direkten Kontakt.
Während prinzipielle Positionen Kiews und Moskaus weit auseinander liegen - dass Russland selbst mit einer bedingungslosen Waffenruhe für 30 Tage nichts anfangen kann, dürfte inzwischen jedem klar sein -, sind beide Seiten daran interessiert, die US-Administration noch länger im Verhandlungsprozess zu behalten. Die Fallhöhe ist jedoch unterschiedlich. Die ukrainische Staatsführung rund um Selenskyj muss unverändert dafür kämpfen, dass die USA nach dem Auslaufen der von Joe Biden bewilligten Hilfspakete zumindest weiter Waffen und Munition an die Ukraine verkaufen. Es ist alles andere als ausgeschlossen, dass diese Hoffnung vergeblich ist. Für Putin ist die Situation gemütlicher. Groß ist die Hoffnung in Moskau, von Trump noch mehr zu bekommen, als Putin ohnehin schon bekommen hat, ohne dafür etwas getan zu haben. Doch selbst wenn die USA Sanktionen gegen Russland verschärfen, ist es für Russland schon von Vorteil, dass mit einer Verstärkung der US-Unterstützung der Ukraine nicht zu rechnen ist.
Putin setzt auf die Sommeroffensive
Zu einer solchen Situation passt ein großer Gefangenenaustausch, der beide Seiten wenig kostet, perfekt. Ebenso wenig verwunderlich ist, dass die drittklassige russische Delegation, angeführt vom Pseudohistoriker Wladimir Medinskij, nicht nur Standardfloskeln wie die von der inzwischen legendären "Beseitigung der Erstursachen des Ukraine-Konflikts" für die TV-Kameras wiederholte, sondern gegenüber den Ukrainern übereinstimmenden Medienberichten zufolge regelrecht gedroht hatte. Russland sei bereit, so lange wie nötig Krieg zu führen - und den Ukrainern solle es bewusst sein, dass es beim nächsten Mal nicht nur um die aktuell teilbesetzten Gebiete gehen könnte, sondern um weitere Regionen wie Charkiw oder Sumy. Dass die Russen von der Ukraine fordern, sich freiwillig aus Großstädten wie Cherson und Sumy zurückzuziehen, versteht sich von selbst.
Die Wirklichkeit dieses Krieges ist brutal - und hängt wenig davon ab, was Trump und sein Vizepräsident JD Vance mit Selenskyj und Putin besprechen. Die Realität ist folgende: Es ist gut möglich, dass wir vor dem bisher blutigsten Sommer dieses Krieges stehen. Dass Russland Verhandlungen - oder deren Imitation - parallel zur Ausübung des maximalen militärischen Drucks führt, ist eine lang bekannte Moskauer Strategie, die schon im ursprünglichen Donbass-Krieg mehrfach angewendet wurde. Angesicht einer schwindenden US-Unterstützung setzt Putin auf den maximalen Erfolg der gerade beginnenden Sommeroffensive. Aus seiner Sicht ist es wohl die wichtigste Offensive bisher in diesem Krieg, vielleicht abgesehen vom ursprünglichen Blitzkriegsplan im Februar 2022 - und auch Trump wird ihn nicht davon abbringen können.
Während alle Aufmerksamkeit auf den Verhandlungen liegt, sind wir daher wieder an einem Punkt angelangt, an dem die Perspektive eines Waffenstillstandes vor allem auf dem Schlachtfeld ausverhandelt wird. Sollte Russlands Offensive scheitern, sollten der russischen Armee wieder viel zu große Verluste zugefügt werden, könnte im Kreml vielleicht doch ein Umdenken stattfinden. Bis dahin tut einem vor allem eine Person leid: Wolodymyr Selenskyj, der neben den Herausforderungen des eigentlichen Krieges den Trumps und Vances dieser Welt immer wieder erklären muss, dass zwei mal zwei gleich vier ist. Denn dass die Ukraine sofort zu einer Waffenruhe zu adäquaten Bedingungen bereit wäre, war schon klar, bevor Trump Kiew zu diesem öffentlichen Bekenntnis zwang. Bis heute scheint Trump jedoch nicht zu verstehen, dass es nicht an der Ukraine liegt - oder er will es nicht verstehen.
Quelle: ntv.de
Tags: