Bei den Präsidentschaftswahlen am 8. November wurde, streng genommen, nicht der neue Präsident bestimmt, sondern lediglich das "electoral college", das Gremium der 538 Wahlmänner und -frauen. Sie treffen sich "am ersten Montag nach dem zweiten Mittwoch im Dezember", wie es im US-Bundesgesetz heißt. Die Stimmabgabe findet nicht bei einer zentralen Zusammenkunft statt, sondern jeweils in den einzelnen Bundesstaaten.
Je nach Größe entsenden die Bundesstaaten zwischen drei und 55 Personen ins Elektorenkolleg. Ähnlich wie im deutschen Bundesrat sind die kleineren Bundesstaaten dabei überrepräsentiert. In Wyoming etwa, dem Bundesstaat mit den wenigsten Einwohnern, vertritt eine Elektorenstimme rund 186.000 Wähler. In Kalifornien, dem Bundesstaat mit den meisten Einwohnern, kommen 670.000 Wähler auf einen Wahlmann beziehungsweise eine Wahlfrau.
Nach allem, was man weiß, hielt Trump dieses System früher für unfair. Im Jahr 2012, als Trump den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney unterstützte und Präsident Barack Obama mit einer abstrusen Verschwörungstheorie attackierte, nannte er das Wahlmännergremium "ein Desaster für die Demokratie" und rief die Amerikaner zu einem Marsch nach Washington auf, "um diese Travestie zu stoppen".
Auf einmal sind die Wahlmänner "genial"
Trumps damalige Empörung basierte auf dem Glauben, dass Romney weniger Wahlmänner gewonnen, aber die meisten Stimmen der Wähler erhalten hatte. Das stimmte nicht: Obama hatte seinerzeit einen Vorsprung von 51 zu 47 Prozent.
Sofern man annimmt, dass Trump feste politische Überzeugungen hat, muss man davon ausgehen, dass er seine Meinung geändert hat. Tatsächlich sei das Elektorenkolleg "genial", twitterte Trump nach seinem Wahlsieg, denn es bringe auch die kleineren Staaten ins Spiel.
Tatsächlich verdankt Trump seinen Wahlsieg genau dem System, dass er vor vier Jahren für ein Desaster erkläre – auf Clinton entfielen bei der Wahl 65,8 Millionen Stimmen, auf Trump 63 Millionen. Für seinen Wahlsieg ist das irrelevant, aber es scheint ihn doch gewurmt zu haben. Wenn es kein Wahlmännergremium geben würde, hätte er seinen Wahlkampf auf die bevölkerungsreichen Staaten New York, Florida und Kalifornien konzentriert "und noch deutlicher gewonnen", twitterte er. Das ist möglich, aber natürlich nicht überprüfbar. Unsinn ist seine Behauptung, er habe die Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewonnen, "wenn man die Millionen Menschen abzieht, die illegal gewählt haben".
Die Gründerväter der USA misstrauten den Wählern
Sollten alle Wahlmänner und -frauen so abstimmen, wie die Wähler es von ihnen erwarten können, dann entfallen auf Trump heute 306 Stimmen und auf Clinton 232. Allerdings verpflichtet die US-Verfassung die Wahlmänner nicht darauf, für ihren Kandidaten zu stimmen. Genau darum geht es ja beim "electoral college": Alexander Hamilton, einer der Väter der amerikanischen Verfassung, schrieb 1788, es sei wünschenswert, dass die unmittelbare Wahl des Präsidenten von Männern durchgeführt werde, die in der Lage seien, eine so wichtige Entscheidung zu treffen. Mit anderen Worten: Er misstraute den Wählern.
In einigen Bundesstaaten müssen sogenannte untreue Wahlmänner mit Geldstrafen rechnen. Bislang ist eine solche Strafe jedoch noch nie verhängt worden. Abweichende Voten im Wahlmännergremium haben auch noch nie dazu geführt, dass der Willen der Wähler missachtet wurde.
Einzelne Abweichungen gab es durchaus, zuletzt 2004. Ein Wahlmann aus Minnesota stimmte, warum auch immer, für einen gewissen "John Ewards". Wahlsieger war damals George W. Bush. Der demokratische Kandidat war der heutige US-Außenminister John Kerry; sein Vize-Kandidat hieß John Edwards.
Ein Wahlmann will untreu werden
In diesem Jahr haben demokratische Wahlmänner eine Initiative ins Leben gerufen, mit der sie Donald Trump im "electoral college" verhindern wollen. Dass dieser Plan aufgeht, ist höchst unwahrscheinlich. Immerhin: Der Republikaner Christopher Suprun, Wahlmann für den Bundesstaat Texas, kündigte an, nicht für Trump zu stimmen.
Trump zeige "täglich, dass er für das Amt nicht qualifiziert ist", schrieb Suprun zur Begründung in der "New York Times" und zitierte auch Alexander Hamilton. Dem zufolge sollten die Wahlmänner entscheiden, ob ein Kandidat qualifiziert, kein Demagoge und unabhängig von ausländischem Einfluss sei. "Mr. Trump zeigt uns immer wieder, dass er diese Anforderungen nicht erfüllt."
Suprun nennt sich in seinem Kommentar einen der Feuerwehrmänner, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eingesetzt wurden. Er schreibt: "Vor fünfzehn Jahren habe ich einen Eid geschworen, mein Land und die Verfassung gegen äußere und innere Feinde zu verteidigen. Am 19. Dezember werde ich das wieder tun." Ein Held vom 11. September, der sich gegen Trump stellt? Nachdem sein Text in der "New York Times" erschien, kamen daran Zweifel auf. Ein texanischer Fernsehsender berichtete, Suprun habe seine Rolle von 2001 erfunden.
Das Trump-Lager scheint nervös zu sein
Ob Feuerwehrmann oder nicht, Suprun ist der einzige Republikaner, der öffentlich angekündigt hat, Trump seine Stimme zu verweigern. Andere berichten, sie hätten Tausende E-Mails erhalten mit der Aufforderung, nicht für Trump zu stimmen. "Liebe Wahlmänner, es wird keinen Frieden auf Erden geben, wenn Sie nicht den Kandidaten ablehnen, dem Landesverrat vorgeworfen wird, und stattdessen Hillary Clinton wählen", heißt es in einem Weihnachtsgruß, den der Republikaner Charles Potts auf seiner Facebook-Seite veröffentlichte.
Auf der anderen Seite üben nach einem Bericht der Nachrichtenseite Politico auch die Republikanische Partei und das Trump-Wahlkampfteam Druck auf republikanische Wahlmänner aus. Der Texaner Alexander Kim sagte Politico, er habe 30 entsprechende Anrufe bekommen. "Sie versuchen, die Stimmen zu sichern", sagte er. Eine gewisse Nervosität scheint es im Trump-Lager also zu geben.
Offiziell ausgezählt wird das Ergebnis der heutigen Wahl erst am 6. Januar. Dann kommen Senat und Repräsentantenhaus in Washington zusammen, um die Stimmen der Wahlmänner und -frauen zu zählen. Dem scheidenden Vizepräsident Joe Biden wird es zufallen, die Auszählung zu überwachen und den Wahlsieger zu verkünden. Vereidigt wird Trump dann noch immer nicht. Die sogenannte Inauguration findet am 20. Januar statt.
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