Das Vorleben in Tunesien
Amri soll am 22. Dezember 1992 in der Stadt Tantaouine geboren worden sein, andere Dokumente nennen die Ortschaft Ghaza. Amri wächst in ärmlichen Verhältnissen in der Kleinstadt Oueslatia auf. Dort leben auch heute noch Angehörige des Verdächtigen. Die Eltern sind geschieden, sein Vater ist seit einem Unfall behindert.
Der Vater sagte dem tunesischen Radiosender Mosaique FM, sein Sohn habe sich schon vor sieben Jahren auf den Weg nach Italien gemacht. Anis` Bruder Abdelkader sprach bei "Sky News Arabia" davon, dass der mutmaßliche Terrorist seine Heimat vor sechs Jahren verlassen habe - auch um einer Gefängnisstrafe wegen Diebstahls und Körperverletzung zu entgehen. Anis Amri soll unter anderem in der tunesischen Stadt Kairouan einen Lkw gestohlen haben.
Die Haft in Italien
Anfang 2011 gelangt Amri in einem Flüchtlingsboot auf die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa. Dort registriert die Polizei ihn im Februar. Amri gibt an, 1994 geboren zu sein, deshalb kommt er in ein Auffanglager für Minderjährige.
Darüber, was dann mit ihm passiert, gehen die Angaben auseinander: "La Repubblica" schreibt, Amri habe zu der Gruppe von Migranten gehört, die am 19. September 2011 in der Unterbringung Feuer legten. Deshalb sei er zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Nach Recherchen von "La Stampa" war Amri aber nur kurz auf Lampedusa und zum Zeitpunkt des Brandes schon längst in Catania auf Sizilien. Dort soll er bei einer Gastfamilie gelebt und die Schule besucht haben. Es habe jedoch ständig Schwierigkeiten gegeben: Amri soll seine Klasse terrorisiert und ständig rebelliert haben. Schließlich habe er versucht, die Schule anzuzünden. Deshalb habe ihn die Polizei am 23. Oktober 2011 auf Sizilien festgenommen. Dann sei er zu vier Jahren Haft verurteilt worden.
Ab diesem Punkt stimmen die beiden Versionen wieder überein: Er sitzt erst im Gefängnis von Catania ein, wird dann aber nach Palermo verlegt. Die Justizbehörde stuft ihn als "gefährliches Subjekt" ein. Amri habe von Anfang an Probleme bereitet, berichtet "La Stampa" unter Berufung auf Justizkreise. Deshalb kommt er auch nicht für eine vorzeitige Haftentlassung infrage, erst im Mai 2015 kommt der Tunesier aus dem Gefängnis Ucciardone in Palermo frei.
Nach Angaben aus italienischen Ermittlerkreisen habe Amri während seiner Haftzeit keine Anzeichen einer Radikalisierung gezeigt. Dem widerspricht sein Bruder Walid Amri: Anis habe mit anderen arabischen Kriminellen eingesessen, die ihn beeinflusst hätten. Er habe das Gefängnis als militanter Islamist verlassen. Anis` Bruder Abdelkader berichtet, nach der Haftentlassung sei es schwierig geworden, mit ihm zu reden, er habe "auf niemanden mehr gehört".
Vom Gefängnis in Palermo wird Amri direkt in eine Abschiebezentrale in der sizilianischen Stadt Caltanissetta verlegt. Die Abschiebung scheitert, weil Tunesien die Aufnahme des Mannes verweigert. Amri wird freigelassen und erhält die Auflage, Italien zu verlassen. Nach eigenen Angaben speisen die italienischen Behörden alle relevanten Informationen zu Amri, etwa über seine Verurteilung, sein Verhalten in Haft und die gescheiterte Abschiebung in das Schengener Informationssystem Sis ein. Darin werden unter anderem unerwünschte, vermisste und zur Fahndung ausgeschriebene Personen registriert.
Die Ankunft in Deutschland
Trotzdem kann Amri offenbar ungehindert nach Deutschland weiterziehen. Im Juli 2015 reist er über Freiburg in die Bundesrepublik ein, in den ausländerrechtlichen Datenbanken findet sich der 30. Juli 2015 als Einreisedatum. Von Baden-Württemberg zieht der Tunesier offenbar zunächst weiter nach Nordrhein-Westfalen. Dort taucht er in Oberhausen und Kleve auf. Er benutzt unterschiedliche Namen und Identitäten.
Im April 2016 stellt Amri einen Asylantrag. Er gibt vor, Ägypter zu sein und in seiner Heimat politisch verfolgt zu werden. Allerdings spricht er weder den ägyptischen Dialekt, der sich deutlich vom tunesischen Arabisch unterscheidet, noch kann er in der Befragung Substanzielles über Ägypten sagen. Deshalb wird sein Asylantrag im Juni als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt.
Die gescheiterte Abschiebung
Bei einer Routinekontrolle in einem Reisebus bei Friedrichshafen greifen Polizisten Amri mit gefälschten italienischen Papieren auf. Bei der Überprüfung stellen die Beamten fest, dass der Mann abgeschoben werden soll. Amri kommt in Abschiebehaft. Die Abschiebung scheitert aber, weil Tunesien sich weigert, den Häftling aufzunehmen, und die notwendigen Papiere der tunesischen Behörden fehlen. Theoretisch können Personen auf richterliche Anordnung sechs Monate in Abschiebehaft bleiben. Diese kann um maximal zwölf Monate verlängert werden.
Amri aber wird nach zwei Tagen wieder aus dem Gefängnis in Ravensburg freigelassen - auf Anordnung der Ausländerbehörde in Kleve. Offenbar sah die Behörde weder die Möglichkeit, dass Amri rasch abgeschoben werden könnte, noch die Gefahr, dass der Mann untertauchen würde.
Bei der Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt gibt er eine Anschrift in Karlsruhe an. Dort taucht er aber offenbar nie auf.
Erst nach der gescheiterten Abschiebung beantragen die Behörden im August bei den tunesischen Stellen einen Ersatzpass. Diese Dokumente treffen erst am Mittwoch in Nordrhein-Westfalen ein - zwei Tage nach dem Anschlag von Berlin.
Die Kontakte zu Islamisten
Schon kurz nach seiner Ankunft in Deutschland sucht Amri Kontakt zu bekannten Islamisten. Er nimmt Verbindung zum Hildesheimer Hassprediger Abu Walaa auf, der zahlreiche deutsche Dschihadisten zur Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) geschleust haben soll und inzwischen in U-Haft sitzt. Zudem verkehrte er im Umfeld der salafistischen Prediger Hasan C. in Duisburg und Boban S. in Dortmund. Amri soll zeitweise sogar einen Schlüssel für dessen Wohnung besessen haben. Wegen dieser Kontakte stuften ihn mehrere Sicherheitsbehörden als sogenannten Gefährder ein - also als Person, der man jederzeit einen Anschlag zutraut. Aus Sicherheitskreisen heißt es aber, es gebe bislang keine Hinweise darauf, dass der Tunesier ein wichtiges Mitglied des salafistischen Netzwerks war.
Amri hat sich aber offenbar verklausuliert als Selbstmordattentäter angeboten und sich zudem erkundigt, wie er Waffen beschaffen könne. Die "New York Times" berichtet unter Berufung auf US-Beamte, der Terrorverdächtige habe über den Messenger-Dienst Telegram in direktem Kontakt mit dem IS gestanden. Auf welchen Zeitraum sich diese Angabe bezieht, ist unklar.
Die Ermittlungen in Berlin
Das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt initiierte beim Generalbundesanwalt ein Verfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Weil sich Amri ab Februar 2016 hauptsächlich in Berlin aufgehalten haben soll, wurden die Ermittlungen ab 14. März 2016 vom dortigen Generalstaatsanwalt geführt. Die Behörden hatten Informationen erhalten, laut denen Amri einen Einbruch plane, um mit der Beute automatische Waffen für einen Anschlag bezahlen zu können. Die Polizei warnte das mögliche Opfer des geplanten Einbruchs, hörte Amri ab und observierte ihn.
Die Überwachungsmaßnahmen lieferten Hinweise darauf, dass der Tunesier im Görlitzer Park mit Drogen dealte und sich in einer Bar prügelte - offenbar ein Streit innerhalb der Dealerszene. Die Überwachung lieferte jedoch keine Hinweise auf die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat. Deshalb konnten die Überwachungsmaßnahmen ab September aus rechtlichen Gründen nicht verlängert werden.
Die Polizei konnte ihn zu diesem Zeitpunkt in Berlin nicht mehr auffinden, auch Verbindungen zu seinen Kontaktpersonen im islamistischen Milieu wurden nicht mehr festgestellt. Den letzten Hinweis auf Amri in Berlin liefert ein knapp sieben Sekunden langes Video, das er nach Angaben der Rechercheplattform Bellingcat am 26. September bei Facebook geteilt haben soll. Der Clip zeigt Amri an der Spree in Berlin-Kreuzberg, in der Nähe der Oberbaumbrücke.
Die Spuren im Lkw
Den nächsten gesicherten Hinweis auf Amri finden die Ermittler erst am Tatort Breitscheidplatz. Die Ermittler sagen, sie hätten am Dienstagnachmittag im Fußraum des Lkw eine Duldungsbescheinigung gefunden, ausgestellt auf Ahmad S., geboren 1995 in Tunesien. Das ist eine der sechs unterschiedlichen Identitäten mit denen Amri bei den Behörden aktenkundig war.
Die Durchsuchung der Kabine erfolgte so spät, weil zunächst Spürhunde, sogenannte Mantrailer, in der Kabine den Geruch des Verdächtigen aufnehmen sollten. Weil dieser Geruch nicht verdorben werden sollte, wurde das Cockpit bis dahin nicht gründlich durchsucht.
Offen ist, ob Amri die Geldbörse mit den Papieren beim Kampf mit dem Lkw-Fahrer Lukasz U. unbeabsichtigt verlor oder ob er seine Dokumente mit Absicht zurückließ. Öffentlich rufen die Terrororganisationen IS und al-Qaida ihre Anhänger nicht dazu auf, bewusst Spuren am Tatort zu hinterlassen.
Gleichwohl spricht manches dafür, dass Amri die Papiere absichtlich im Lkw deponierte. Zu den Zielen der Dschihadisten gehört es, Flüchtlinge in Europa zu diskreditieren und die Gesellschaften gegen Muslime aufzustacheln. Deshalb wollte der Attentäter möglicherweise bewusst darauf hinweisen, dass ein abgelehnter Asylbewerber, der über Lampedusa nach Europa kam, für den Terroranschlag verantwortlich ist.
Auch Charif Kouachi, einer der Beteiligten am Anschlag auf "Charlie Hebdo" in Paris, hatte im Januar 2015 seinen Ausweis im Fluchtfahrzeug hinterlassen. Ob absichtlich oder nicht, das ist bis heute ungeklärt. Kouachi wurde zwei Tage nach dem Attentat von der Polizei erschossen.
Der Bachmann-Tweet
Schon rund zwei Stunden nach dem Anschlag am Montagabend twitterte Pegida-Gründer Lutz Bachmann: "Interne Info aus Berliner Polizeiführung: Täter tunesischer Moslem". Der Tweet sorgte aus zwei Gründen für Aufregung: Hat der unter anderem wegen Volksverhetzung verurteilte Mann wirklich Kontakte in Berliner Polizeikreise? Und hatten die Ermittler möglicherweise doch schon direkt nach dem Attentat Hinweise auf Amri?
Das Dementi kommt promt: "Ich kann hundertprozentig ausschließen, dass die Berliner Polizei bereits am Montagabend Hinweise auf einen tunesischen Tatverdächtigen hatte", sagt Polizeisprecher Winfrid am Donnerstag.
Quelle : spiegel.de
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