Warum erst jetzt? EU wegen Türkei-Bericht in der Kritik

  11 November 2015    Gelesen: 533
Warum erst jetzt? EU wegen Türkei-Bericht in der Kritik
Der EU-Fortschrittsbericht zur Türkei fällt wie erwartet verheerend aus. Kritiker der Regierung in Ankara sind dennoch nicht zufrieden. Der Veröffentlichungszeitpunkt sei ein Wahlkampfgeschenk gewesen, lautet der böse Vorwurf.
Hat die Europäische Union der islamisch-konservativen Führung in der Türkei Wahlkampf-Hilfe geleistet, um sich deren Unterstützung in der Flüchtlingskrise zu sichern? Nach der Veröffentlichung des jüngsten EU-Türkei-Berichts werden sich die politischen Entscheidungsträger in Brüssel diese Frage vermutlich noch lange anhören müssen. Die Analyse der Menschenrechtssituation und des Justizsystems im EU-Kandidatenland fällt so düster aus, dass es für viele vollkommen unverständlich ist, dass sie nicht wie ursprünglich vorgesehen bereits im Oktober und damit vor der Parlamentswahl veröffentlicht wurde.

«Den Bericht zurückzuhalten, war eindeutig Wahlhilfe für Präsident (Recep Tayyip) Erdogan und seine Partei AKP», schimpfte die Grünen-Politikerin Rebecca Harms am Dienstag in Brüssel und nannte die Entscheidung unverantwortlich. Der SPD-Europaabgeordnete Knut Fleckenstein sprach von einem «Flüchtlingsrabatt». Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende spielte damit darauf an, dass die EU die Regierung in Ankara dazu bringen will, nicht mehr so viele Menschen aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und dem Irak in Richtung EU ziehen zu lassen. «Ohne die Türkei bekommen wir die Flüchtlingskrise nicht in den Griff», heißt es dazu nahezu täglich in Brüssel.

Inwieweit die Europäische Union der Türkei entgegenkommen sollte, ist stark umstritten. Beim Thema Geld – die Türkei will unter anderem drei Milliarden Euro für die Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen – gibt es kaum Widerstände. Keine Einigkeit gibt es allerdings beim Thema EU-Beitritt. Während die EU-Kommission die von Ankara gewünschten Ausweitung der Verhandlungen als Chance für mehr Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verkauft, sieht manch ein konservativer Politiker die Sache ganz anders.

«Der Bericht zeigt deutlich: Wir verhandeln seit zehn Jahren, aber es gibt mehr Rückschritte als Fortschritte», kritisierte der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. Seiner Meinung nach wären leichtfertige Zugeständnisse bei den Beitrittsverhandlungen ein «fataler Fehler». Wer abweichende Ansichten und einen kritischen Diskurs mit Verboten bekämpfe und mit polizeilichen Ermittlungsverfahren Journalisten ausschalte, dem liege offensichtlich nichts an Pressefreiheit und demokratischen Grundwerten, lautet seine Lesart der Analyse.

Die EU-Kommission streitet bislang ab, dass sie ihren Türkei-Bericht wegen der Parlamentswahl erst an diesem Dienstag veröffentlichte, so die dpa. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte allerdings bereits Ende Oktober klar gemacht, dass er eine pragmatische Politik bevorzugt. «Ob es passt oder nicht, ob es gefällt oder nicht gefällt, wir müssen mit der Türkei in gemeinsamer Anstrengung zusammenarbeiten», sagte der Luxemburger vor dem Europaparlament. Es bringe nichts, die Kooperation wegen ungelöster Fragen bei Themen wie Menschenrechte und Pressefreiheit einzustellen.

Diplomaten verweisen zudem darauf, dass eine Ausweitung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei keineswegs mit einer zeitlichen Perspektive einhergehe. Vielleicht werde die Türkei in ein paar Jahrzehnten zur EU gehören, wird in Brüssel gescherzt. Derzeit aber sei die Regierung in Ankara doch gar nicht bereit, in notwendigem Maße Souveränität abzugeben.

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