Was kostet eine Wählerstimme in Armenien?

  02 April 2017    Gelesen: 1185
Was kostet eine Wählerstimme in Armenien?
Die Armenier wählen ein neues Parlament und haben nichts zu verschenken: Wer mehr Geld hat, kauft mehr Stimmen. Viele sind arm und sehen das nicht als Problem.
Viele armenische Wähler haben sich ihre Stimme längst bezahlen lassen. Nur die Käufer, die reichen Politiker des Landes, fragen sich noch, wer von ihnen genug investiert hat, um die meisten Sitze im neuen Parlament zu bekommen. 2,5 Millionen Menschen sind an diesem Sonntag aufgerufen, es zu bestimmen. Es ist eine besondere Wahl, denn sie markiert für Armenien den Übergang von einem präsidialen zu einem parlamentarischen Regierungssystem. Da setzen die Parteien alles daran, ihre Position zu verbessern. Vor allem mit betrügerischen Methoden.
In einem Wahlkreis in der Hauptstadt Jerewan etwa kandidiert Mihran Poghosjan für die Republikanische Partei. Das ist die politische Kraft, die seit 1999 die Regierung stellt, auch Armeniens Präsident Serj Sargsjan gehört ihr an. Die Republikaner setzen darauf, dass die Oligarchen des Landes – von denen viele Parteimitglieder sind – für den Wahlsieg mobilisieren. Auch mit Geld.

Poghosjans Privatvermögen beispielsweise wird auf 800 Millionen US-Dollar geschätzt. Auch Immobilien im Ausland gehören dazu. Seit 2008, als Präsident Sargsjan an die Macht kam, leitete Poghosjan die Vollstreckungsbehörde beim Justizministerium. Nach den Enthüllungen über die Panama Papers im April 2016 trat er zurück. Aber nun will er ins Parlament.
Poghosjan schenkt jedem, der ihm seine Stimme verspricht, ein Smartphone. Allerdings will er auch Beweise dafür sehen, dass sein Geschenk funktioniert. Mit dem neuen Smartphone müssen die Bürger ihre Stimmzettel fotografieren, nachdem sie ihr Kreuz bei Poghosjan gemacht haben. So heißt es in Jerewan. "Das sind Straßengespräche, mehr nicht", kommentieren die Mitarbeiter seines Wahlkampfbüros.

"Mit Korruption gegen Korruption"

Ein Smartphone will auch die Journalistin Anna, aber den Offshore-Mann Poghosjan will sie nicht im Parlament sehen. Sie hat einen Trick von oppositionellen Bürgern gelernt: Erst wird ein Kreuz auf dem Stimmzettel für die Republikaner gemacht, nur für das Smartphone-Foto. Dann wird auf dem gleichen Stimmzettel weiter gezeichnet, gemalt, oft auch geschimpft. "In diesem Fall ist es besser, die eigene Stimme ungültig zu machen. Die Republikaner kriegen nichts von mir", sagt Anna und warnt vor dem Handy-Angebot.
Viele Bürger ziehen ohnehin Bargeld vor. Ihre Stimmen verkaufen sie für 20 bis 30 Euro. Auch Artak Sargsjan beispielsweise, dem das Eliten-Supermarktnetz SAS gehört, ist Kandidat der regierenden Republikaner. Er bezahlt 50 Euro pro Stimme – in Armenien ist das fast eine monatliches Durchschnittsrente.

Um die mindestens 101 Mandate in Armeniens Parlament bewerben sich neun Parteien und Parteienbündnisse. Und das Wahlgesetz hat den Wettbewerb auf dem Stimmenmarkt noch verschärft. Denn es ermöglicht, sich in einem anderen Wahlkreis anzumelden und für den dortigen Kandidaten zu stimmen. Wer mehr Geld hat, kauft mehr Stimmen. Das freut auch die Stimmenkäufer. "Mit Korruption gegen Korruption" lautet das Motto von Narine: Die 58-jährige Mutter zweier Kinder wartet noch auf das beste Angebot. "Am Wahltag fließt mehr Geld", sagt sie. Sie werde an dem Tag mehr als das Doppelte ihres Monatslohns einnehmen.

Die wirtschaftliche Lage Armeniens, das Teil der eurasischen Wirtschaftsunion ist, ist prekär. Laut offiziellen Angaben leben 30 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Internationale Organisationen wie die Weltbank sprechen sogar von 60 bis 70 Prozent. Die Opposition kennt diese Zahlen auch. Und ein besseres Leben versprechen – das kann sie nicht schlechter als die Republikaner.

Gagik Zarukjan etwa gilt als Topunternehmer des Landes, als Star unter den Oligarchen. Der 60-Jährige ist Vorsitzender des armenischen Olympischen Komitees. Zarukjan ist auch der Chef von "Blühendes Armenien", der derzeit zweitgrößten Partei. Der Ex-Koalitionspartner der Republikaner war zuletzt die größte Oppositionspartei im Parlament mit 37 Mandaten (30 Prozent).

Laut der Eigentums- und Einkommenserklärung der Zentralen Wahlkommission hat Zarukjan Anteile an 43 verschiedenen Unternehmen und jährlich etwa 5,7 Million Euro Einkommen. Unter seinen Vermögensgegenständen sind nicht nur Autos und mehrere Gebäude registriert, sondern auch etwa 5 Millionen Euro in Gold und Diamanten. Seine Möbel im Wert von 810.000 Euro und sogar Seidengardinen für 252.000 Euro sind auf der Liste zu finden.

Nun ist der Millionär als Wahlkämpfer unterwegs. Es spielt die Hymne der Partei. Zarukjan wird mit Brot und Salz begrüßt, dann nimmt er ein Bad in der Menge. "Rette unserer Volk, rette unser Land", rufen die Dorfeinwohner. In einer Stadt fällt ihm eine ältere Dame vor die Füße und will sie küssen, in einer anderen Stadt legt eine Frau ihr Baby auf die Hände Zarukjans. Er gibt den Omas ein Küsschen, legt den Männern freundlich seinen Arm auf die Schulter, lächelt und wiederholt: "Ich lasse sie nicht allein."

Tausende Briefe richten die Menschen an Zarukjan und bitten um seine Hilfe: Er soll die Heizung in den Wohnungen installieren, das Dach eines Hauses renovieren, Operations-, und Medikamentenkosten übernehmen, ebenso wie Gebühren für Hochschulen. Einer kann seine Baustelle nicht mehr fertigbekommen, ein anderer seinen Kredit nicht mehr bedienen. In Tavush, einer Provinz im Nordosten Armeniens, lässt ein Mann Zarukjan nicht weitergehen: "Seit 50 Jahren ist meine Mutter blind. Tun Sie etwas, damit meine Mutter wieder sieht." Vielleicht wäre ein kleines Honorar hilfreich?
"Das revolutionäre Potenzial ist ausgewandert"

Dabei hat Armenien ein Antikorruptionsgesetz. Nur: Es hält sich niemand daran. Nicht jetzt, vielleicht später, hört man oft. Die Jugendlichen, die auf Facebook gegen Korruption werben, wollen das nicht hinnehmen. Aber wenn man im Land mit einfachen Leuten spricht, versteht man, dass es nicht so einfach ist.
Edmon Marukjan ist der Spitzenkandidat des jüngsten Oppositionsbündnisses "Ausweg" (Jelk). Er macht eine Gegenkampagne und stellt fest: "Menschen leben in Armenien in Armut und unter schweren sozialen Bedingungen. Ihnen ist nicht bewusst, wie gefährlich ein gegen Bargeld gewähltes Parlament ist." Marukjan glaubt: "Das revolutionäre Potenzial ist schon seit Langem ausgewandert."
Die Lage sei besonders in den Provinzen drastisch. Da warteten die Menschen sogar auf einen Sack Mehl als Gegenwert für ihre Stimme. "Ein Sack muss dann aber für fünf Jahre reichen", ermahnt Marukjan seinen Gesprächspartner in einem Dorf. "Solltet ihr das Angebot annehmen, dürftet ihr die Regierung bis zum nächsten Wahltag also nicht kritisieren." Die Ironie versteht sicher nicht jeder.
Etwa 650 internationale Beobachter begleiten die Wahl, 300 davon hat die OSZE entsandt. Die lokalen Nichtregierungsorganisationen haben sich in diesem Jahr noch stärker für die Wahlbeobachtung engagiert, mit 3.750 Beobachtern insgesamt. Darunter sind 310 Diaspora-Armenier aus den USA, Kanada, Frankreich, Deutschland oder Russland. "Wir können über 98 Prozent des Abstimmungsprozesses kontrollieren", sagt Armen Grigorjan, Koordinator der Gruppe Bürger-Beobachter. Für ihn ist Stimmenkauf kein Thema, sagt er.

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