Nach der Euphorie

  22 September 2015    Gelesen: 1009
Nach der Euphorie
Viele CDU-Abgeordnete sind über Kanzlerin Merkels Flüchtlingskurs irritiert und üben ungewohnt offen Kritik.
In der am Dienstag anstehenden Fraktionssitzung der Union ist für Merkel deshalb der Rückhalt von Fraktionschef Volker Kauder wichtig.

Kauder hatte zuletzt sehr deutlich seine Loyalität zur Kanzlerin zum Ausdruck gebracht.
Von Robert Roßmann, Berlin

Es kommt in der CDU nicht mehr oft vor, dass die Vorsitzende frontal angegriffen wird. Angela Merkel führt die Partei seit 15 Jahren - als Kanzlerin steht sie im Zenit ihrer Macht. So jemand muss sich in seiner Partei deutlich häufiger gegen Hagiografien wehren als gegen Kritik. Umso erstaunlicher sind diese Tage. Seit Merkel Anfang September die Grenzen öffnen ließ, rumort es in ihrer Partei gewaltig. Wer einen CDU-Abgeordneten sucht, der den Kurs der Kanzlerin vorbehaltlos lobt, muss lange suchen. Dafür begegnen einem ständig Parlamentarier, die über das Agieren Merkels verwundert sind.

Merkel habe "so manchem Stamm-Unionisten ohne Vorwarnung den Boden der politischen Heimat unter den Füßen weggezerrt", sagt Veronika Bellmann. Die Frau ist seit 25 Jahren CDU-Abgeordnete, erst im Kreis- und im Landtag, seit 2002 im Bundestag. Sie beklagt "euphorisierte Grenzöffnungsversprechen" und sieht in der neuen Flüchtlingspolitik einen "ordnungspolitischen Offenbarungseid". Rechtssystem und Ordnungsmacht seien "längst nicht mehr mächtig", sondern überlastet. Die Bürger befürchteten deshalb Anarchie, sagt Bellmann. Sie bräuchten jetzt ein Signal, dass dieser Staat noch Herr der Lage sei.

Viele Abgeordnete sind verärgert, am Dienstag ist die Fraktionssitzung

Veronika Bellmann kommt aus Sachsen. Bei dem CDU-Landesverband wusste man in den vergangenen Monaten nicht immer, ob er schon der linke Flügel der AfD oder noch der rechte Flügel der CDU ist. Bellmanns Einlassungen im Handelsblatt sind trotzdem nur wegen ihrer Schärfe untypisch. Im Kern teilen sie auch sehr viele CDU-Abgeordnete, die Kollegen von der CSU sowieso.

Jens Spahn ist Finanzstaatssekretär in Merkels Regierung. Da muss man vorsichtig formulieren. Aber auch Spahn beklagt eine "beinahe euphorische Darstellung in den Medien", die viele Sorgen der Bürger über die Flüchtlingspolitik ignoriere. Dabei seien die alles bestimmenden Fragen der Bürger: "Wie viele Flüchtlinge kommen nächstes Jahr? Bekommt ihr die Lage wieder in den Griff? Und wie soll Deutschland das auf Dauer aushalten?" Johannes Singhammer, der Bundestagsvizepräsident von der CSU, sagt sogar: "Mein Rat an die Kanzlerin ist zu erklären, dass Deutschland derzeit nicht in der Lage ist, weiter größere Zahlen an Flüchtlingen aufzunehmen."

An diesem Dienstag kommen Bellmann, Spahn, Singhammer und alle anderen Unionsabgeordneten zur Fraktionssitzung zusammen. Es könnte für Merkel eine ziemlich unangenehme Sitzung werden. Umso wichtiger ist für sie Fraktionschef Volker Kauder. Der ist zwar ein überzeugter Parlamentarier, auch deshalb hat es ihn nie in ein Ministeramt getrieben. Kauder ist durchaus in der Lage, einen eigenen Akzent zu setzen. In der Debatte um den Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, hat er sich von Merkel abgesetzt - und damit der Mehrheit seiner Fraktion aus dem Herzen gesprochen. Wenn es um die Macht geht, kennt Kauder aber keinen Spaß. Dann steht er loyal an der Seite der Kanzlerin - egal, was große Teile seiner Fraktion denken.

Als eine Zeitung vergangene Woche meldete, Kauder ginge in der Flüchtlingspolitik auf Distanz zur Kanzlerin, war der Fraktionschef gerade in New York. Trotzdem ließ er seinen Sprecher sofort Redaktionen in Deutschland anrufen, um den Bericht zu dementieren. Kauder ist der dienstälteste Fraktionschef in der Geschichte der Unionsfraktion, so jemand wird auch im Umgang mit den Medien gelassen. Wenn Kauder sich falsch dargestellt fühlt, lässt ihn das normalerweise relativ kalt. Wenn er sich wie jetzt doch meldet, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Lage brenzlig ist.

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Ein Fraktionschef, der gegen die Kanzlerin agiert, könnte Merkel derzeit gefährlich werden. Wie die Fraktionssitzung ausgehen wird, lässt sich schwer voraussagen. In der Union laufe das oft eigenartig, sagt einer aus der CDU-Spitze: "Entweder gibt es Gespenster-Ruhe, weil sich keiner traut, den Anfang zu machen - oder der Sturm bricht los." Am Montag hat bereits das CDU-Präsidium über die Lage beraten. Dabei war allen klar, dass neben einer Verbesserung der aktuellen Lage auch eine Perspektive aufgezeigt werden muss, wie Deutschland das Problem auf Dauer schultern kann.

Die CDU-Granden setzen dabei auf die geplanten Verschärfungen im Asylrecht. Sie tragen nach Ansicht von Generalsekretär Peter Tauber "die Handschrift der Union". Außerdem hofft die CDU auf eine Entlastung durch andere EU-Staaten, auf Gespräche mit dem Transit-Land Türkei, auf die neuen Kontakte zwischen Russland und den USA in der Syrien-Frage sowie auf mehr Hilfen für die Flüchtlingslager in der Region. Ob das wirklich reichen wird, weiß aber auch im CDU-Präsidium noch keiner. Lange dauern wird es in jedem Fall.

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