Da findet er es auch noch okay, seinen Namen in den Medien zu lesen. Er tickert Screenshots von CNN Türk mit den aktuellen Auszählungsergebnissen: „Izmir knapp 70 Prozent“, „Ankara ist sehr knapp“. Seine Anspannung ist aus den kurzen Nachrichten herauszulesen. Kurz vor 22 Uhr schreibt er: „Meine Familie ist dagegen, dass mein Name in dem Report vorkommt.“ Und noch später am Abend: „Wir trauern um unser Land und unsere Angehörigen dort.“ Und: „Ich fühle mich betrogen vom Staat.“ Haufenweise kursierten Videos von Wahlscheinen, „die nachträglich alle mit Ja bestempelt wurden“.
In der Türkei erklärt derweil die prokurdische HDP: „Unsere Informationen weisen auf Manipulation in der Größenordnung von drei bis vier Prozentpunkten hin.“ Bei dem knappen Ergebnis entscheidende Prozentpunkte.
Die Türken in Deutschland stimmen am Ende fast mit Zweidrittelmehrheit für das Präsidialsystem. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu kommt das Ja nach Auszählung fast aller Stimmen im Ausland auf 63,1 Prozent. Die Wahlbeteiligung in Deutschland liegt bei knapp 50 Prozent.
Insgesamt sind rund 58,2 Millionen Wahlberechtigte zur Abstimmung aufgerufen: 55,3 Millionen in der Türkei und 2,9 Millionen im Ausland. Letztere hatten bis zum Sonntag eine Woche vor dem Referendum in der Türkei die Möglichkeit, abzustimmen.
Opposition moniert Unregelmäßigkeiten bei der Wahl
Zu den vermeldeten Unregelmäßigkeiten gehört auch, dass die Wahlkommission während der laufenden Abstimmung und gegen den Widerstand des CHP-Vertreters im Gremium Stimmzettel zuließ, die nicht von ihr gestempelt und verifiziert worden waren. Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu schäumte: „Man kann nicht mitten in einem laufenden Match die Regeln ändern.“ Der Satz könnte auch von dem türkischen Freund aus Berlin stammen. Er fühlt sich türkisch als Kemalist und deutsch als Demokrat.
Viele aus der Community werden wohl wie er zu Hause vor dem Fernseher sitzen. In den Straßen rund um das Kottbusser Tor herrscht am Sonntagabend normales Leben. Kneipen und Cafés sind nicht übermäßig besucht, in den wenigsten läuft ein Fernseher. Keine türkischen Flaggen in den Fenstern. Nur einzelne Auto fahren hupend durch die Oranien- oder Adalbertstraße.
Bei Tekbir Döner in der Skalitzer Straße ist Taxifahrer Metin Demir zeitweise der einzige Kunde. Er pikt in seinen Seker Pare, den kleinen runden Kuchen mit der Haselnuss, vollgesogen mit Zuckersirup. Aber der 48-Jährige sieht durch ihn hindurch. Er schaut auf sein Handy, türkisches Fernsehen im Livestream. „Deutschland ist meine Heimat“, sagt er, „Angela Merkel meine Kanzlerin, auch wenn ich nicht ihr Fan bin.“
„Erdogan hat mir Stolz gegeben“
Seit 43 Jahren lebe er schon hier. Und doch habe er für die Verfassungsänderung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestimmt. „Seit Erdogan fühle ich mich zum ersten Mal richtig als Türke. Er hat mir Stolz gegeben.“ Er habe das Gefühl, dass „wir uns entwickeln können“, die Türkei sei „auf dem Weg, so zu werden wie Deutschland“, sagt Demir.
Erdogan wolle alte Gesetze, die noch aus der Vor-Atatürk-Zeit stammten, abschaffen. Dass Erdogan nach der Verfassungsänderung per Dekret Entscheidungen quasi im Alleingang treffen kann, findet der gelernte Industriemechaniker gut. „Wenn man andere fragen muss, dauert es Jahre, bis sich etwas verändert“, seufzt er.
„Außerdem können wir ihn auch wieder abwählen, wenn er Fehler macht.“ Ein Blick aufs Handy: 52 Prozent der Stimmen für, 48 gegen die Verfassungsänderung. Demir ist zufrieden. Erdogan sei gut für die Türkei, für seine Heimat, die Schwarzmeerregion. Der Tourismus habe sich entwickelt und die Infrastruktur die wirtschaftliche Lage verbessert.
„Warum redet ihr uns immer klein?“
Doch aus den meisten seiner Worte spricht die Enttäuschung über das Land, das für ihn, den moderat Gläubigen, der in Sachen Religion „ein bisschen ein fauler Sack“ sei, und der tolerant sein möchte gegenüber Andersdenkenden und Homosexuellen, wie ein großer Bruder ist. Auf den man hört und vor dem man Respekt hat. „Wir lernen doch von Deutschland“, sagt Demir, und: „Die deutsche Kultur ist meine Kultur, deshalb bin ich kein fanatischer Türke!“
Regeln befolgen und dass man arbeiten müsse hierzulande, während man in der Türkei Schmiergeld zahle, das habe er hier gelernt. Aber obwohl manche Dinge, „die Deutschland sagt, richtig sind“, irgendwann sei es genug. „Wir haben uns doch entwickelt, warum redet ihr uns immer klein?“, klagt er. Am Ende bedankt er sich: „Ihr habt euch wirklich Zeit genommen und einmal zugehört.“
Türken feiern in Kreuzberg Erdogan
Obwohl sie mehr als 20 Jahre jünger als Demir sind, glauben auch Tugba Ekici und Berna Veske, Erdogan gebe der Türkei die nötige Stabilität. Die beiden gebürtigen Ingolstädterinnen sprechen mit bayerischem Akzent – bei einem Telefongespräch bliebe ihr Migrationshintergrund unsichtbar. Sie entsprechen so gar nicht dem Klischee der Kopftuch tragenden, strenggläubigen Erdogan-Wählerinnen.
Bernas Rock endet kurz über dem Knie, die Beine stecken in einer dünnen schwarzen Strumpfhose. Übers Osterwochenende ging es zum Städtetrip nach Berlin. In Kreuzberg sind sie heute Abend unterwegs, weil sie gehofft haben, dass die hiesigen Türken ein Ja für Erdogan hier feiern würden.
Und da sind sie endlich, Autos in der Adalbertstraße, laut hupend. Beifahrer sitzen im offenen Fenster, Füße im Wagen, mit der einen Hand festgeklammert am Auto, mit der anderen schwenken sie die türkische Flagge, skandieren „Erdogan! Erdogan!“. Tugba und Berna strahlen, hüpfen vor Freude: „Das ist der Moment, auf den wir gewartet haben!“ Den ganzen Abend über haben sie übers Handy das Internet gecheckt, Tugbas primäre Informationsquelle.
„Ich schaue mir alle Seiten an“, sagt sie. Das Für und Wider Erdogan, meint die 23-jährige Augenoptikerin. Vor allem Filme auf YouTube. Das normale Fernsehen – selten. Im Gegensatz zu Berna, die nur die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, konnte sie abstimmen und gab ihre Stimme ihrem Präsidenten.
Der habe die Türkei freier gemacht, neben der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der Infrastruktur, glaubt sie. Die Kurden zum Beispiel. „Die gehören definitiv zur Türkei. Erdogan hat ihnen das Recht gegeben, ihre Meinung wieder äußern zu können.“
Erdogan spaltet Deutsche und Türken
Was ist mit den Massenverhaftungen, den Schließungen von Zeitungen und TV-Stationen? Es gebe viele Menschen, die „gegen die Türkei“ seien, Terrororganisationen wie die PKK oder die Gülen-Bewegung. Letztere sei für den Putschversuch im letzten Sommer verantwortlich.
Türkisch-stämmige Jugendliche feiern auf der Oranienstraße in Berlin
Türkischstämmige Jugendliche feiern auf der Oranienstraße in Berlin
Quelle: Amin Akhtar
„Ich glaube, dass das eine Terrororganisation ist, die von Amerika und Israel gesteuert wird“, sagt Tugba. Frauenrechte? Reislamisierung? „Es ist bekannt, dass Erdogan ein sehr religiöser Mensch ist. Aber ich habe nicht gehört, dass sich deshalb jemand bedecken muss.“ Und dass Frauen, die Kopftuch tragen, wieder das Studium erlaubt wurde, sei doch gut.
Tugba weiß, dass ihre Ansichten von den meisten Deutschen nicht geteilt werden. Ein Schulfreund habe den Kontakt zu ihr abgebrochen, nachdem sie einen Pro-Erdogan-Post bei Facebook geteilt habe. In der Diskussion zum Post „habe ich nur höflich meine Meinung gesagt, aber er hat mich von seinem Account gelöscht“.
Ein kurzer Schriftwechsel gab Klarheit: Er wolle nicht, dass jemand mit ihren politischen Ansichten seine Beiträge mit dem Like-Daumen versehe. „Aber man kann doch eine Freundschaft deshalb nicht beenden“, findet sie. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns davor verstanden haben.“
Auch Berna stellt eine Kluft fest, die das Türkei-Thema zwischen Deutsche und Türken gerissen hat. „Ich habe sogar meine Stelle gewechselt“, erzählt die Arzthelferin. „Mein Chef und meine Kollegen waren alle extrem Anti-Erdogan.“ Sie habe sich immer wieder die Frage anhören müssen, warum die Erdogan-Befürworter nicht zurück in die Türkei gingen – „auch ohne dass ich mich politisch geäußert habe, nur weil sie wussten, dass ich für Erdogan bin“.
Die politischen Diskussionen beeinträchtigten ihr Leben in dem Land, in dem sie zu Hause sei. „Ich bin voll für Erdogan und freue mich gewaltig für die Türkei“, sagt die 21-Jährige. Nicht nur wegen seiner Errungenschaften für das Land ihrer Eltern, sondern auch weil sie hofft, dass sich nun die Berichterstattung über Erdogan und „die türkischen Themen“ beruhigt. Der Riss zwischen Deutschen und Türken sowie der innerhalb der Community sei „extremer geworden, weil die politischen Meinungen so auseinandergehen“.
Berna hält Erdogan für den starken Mann, den sich doch alle Frauen wünschten und der ihr Mut mache. Die Rede, in der er die türkischen Frauen in Deutschland aufgefordert habe, fünf Kinder zu bekommen, habe sie sich noch einmal genau angesehen. „Er sagt, wir sollen aus unserem Leben hier das Beste machen: Zeigt, was ihr könnt, seid nicht die ‚Türken‘, die sowieso nix draufhaben und dem deutschen Bildungssystem nicht gewachsen sind.“ Er sei da für die Auslandstürken, das sei seine Botschaft. „Das stärkt uns.“ Und selbstredend, so viele Kinder zu bekommen, komme für sie gar nicht infrage.
Viele wollen ihren Namen nicht in der Zeitung lesen
Erdogan, der der Türkei die Toleranz bringt? Daran haben seine türkischen Gegner in Deutschland erhebliche Zweifel. Doch die werden nun wohl stiller. Auf die Frage nach ihrer Meinung zum Ergebnis des Referendums antworten viele hier rund um das Kottbusser Tor, dass sie nichts sagen wollen, wenn ihr Name im Bericht erscheint. Foto? Plötzlich haben es die meisten eilig. „Ein sehr trauriger Tag für die Türkei“, schreibt Gönül per WhatsApp. Eigentlich heißt sie anders. Aber auch sie will ihren Namen nicht öffentlich lesen. „Hab echt Angst.“
Berichte über Spitzel, Passentzug und Verweigerung der Einreise haben sie doppelt vorsichtig gemacht. „Am meisten fürchte ich, dass die Türkei wird wie der Iran“, sagt sie kurz darauf am Telefon. Gönül hat im Fernsehen „den Mob“ gesehen, der auf Erdogans Äußerung, seine „erste Aufgabe“ werde sein, die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung zu setzen, rief: „Idam, Idam“ – „Todesstrafe, Todesstrafe“.
Die Enddreißigerin ist entsetzt. In Deutschland fürchtet sie von ihren türkischen Mitbürgern in erster Linie „Aggressivität, Stasi-Methoden und verbal attackiert“ zu werden. Sie werde zukünftig genau darauf achten, wem sie was erzähle. „Gerade islamkritisch werde ich mich überhaupt nicht mehr äußern.“
Quelle : welt.de
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