Facebook räumt nach Mordvideo Versäumnisse ein

  18 April 2017    Gelesen: 397
Facebook räumt nach Mordvideo Versäumnisse ein
Das FBI jagt einen Mann, der einen Rentner getötet, die Bluttat gefilmt und auf Facebook veröffentlicht haben soll. Das Verbrechen erschüttert das Land - und setzt den Konzern unter Druck.
Seit Ostersonntag verbreiten sich im Internet Videoaufnahmen eines Mordes. Sie stammen aus Cleveland im US-Bundesstaat Ohio, gefilmt hat sie der mutmaßliche Täter selbst. Offenbar wahllos tötete er einen älteren Mann, der auf einem Bürgersteig entlanglief, mit einer Schusswaffe. Seine Tat und die letzten Sekunden im Leben des Opfers hielt er mit einer Handykamera fest. Das Video veröffentlichte er auf Facebook.

Gefasst ist der Mann, der das Verbrechen begangen haben soll, bislang nicht. Die Suche wurde auf sämtliche Bundesstaaten ausgeweitet, das FBI ist eingeschaltet. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Mann "bewaffnet und gefährlich" ist, sie haben eine Belohnung von 50.000 Dollar für entscheidende Hinweise ausgesetzt.

Nicht nur das Verbrechen selbst oder die anschließende Flucht und Fahndung beschäftigen das Land. Zusätzlich schockiert die digitale Inszenierung der Bluttat: Denn der Mord wurde ungefiltert und für ein Massenpublikum zugänglich auf dem größten sozialen Netzwerk der Welt dokumentiert. US-Medien berichten über den Fall als "Facebook-Mord", nennen den Täter "Facebook-Killer".

Erneut ist Facebook Vorwürfen ausgesetzt, das Unternehmen ermögliche die rasante Verbreitung brutaler, verstörender oder rechtswidriger Inhalte - ohne Grenzen, ohne Tabus. In der Nacht zum Dienstag kündigte der Konzern Konsequenzen an: Man werde den Umgang mit Gewaltvideos "überprüfen", hieß es in einer Stellungnahme.

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Das Verbrechen ereignete sich nach Informationen der Polizei am Sonntag gegen 14 Uhr Ortszeit im Nordwesten Clevelands. Das Opfer, ein 74-jähriger Metallgießer im Ruhestand, befand sich nach Schilderungen seiner Angehörigen auf dem Heimweg von einem Feiertagsessen mit seiner Familie.

Der mutmaßliche Täter Steve Stephens ist 37 Jahre alt und nicht vorbestraft. Das Fahndungsfoto zeigt einen vollbärtigen Mann mit Glatze. Er soll zuletzt in einem Therapiezentrum für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche gearbeitet haben. Die Behörden gehen davon aus, dass sich der Verdächtige und das Mordopfer nicht kannten. Nachdem das Video der Bluttat online erschien, alarmierten Facebook-Nutzer die Polizei.

Das Video, das den Mord zeigt, ist 57 Sekunden lang. Darin kündigt der mutmaßliche Täter an, dass er "gleich jemanden töten" werde. Sein Opfer spricht er am Straßenrand an und fordert es auf, den Namen einer Frau laut zu sagen. Dann erschießt er sein Opfer. Nach Facebook-Angaben war das Video für "mehr als zwei Stunden" auf Facebook abrufbar. US-Medien schrieben von eher drei Stunden.

Ursprünglich hatte die Polizei von einer "Live-Übertragung" der Tat gesprochen, der Konzern korrigierte diese Angabe später. Vielmehr habe der mutmaßliche Täter das Video mit etwas Zeitverzögerung auf seinem Facebookprofil hochgeladen.

In mindestens zwei weiteren Sequenzen sendete er in Echtzeit über den Service Facebook Live. Dabei filmte er sich selbst auf dem Fahrersitz eines Autos, sprach über mögliche Motive wie Spielschulden und Beziehungsprobleme ("Ich bin einfach durchgedreht") und behauptete, weitere Morde begangen zu haben. Derzeit liegen der Polizei keine Hinweise auf andere Todesopfer vor.

Das übergeordnete Problem des Videos ist seine bloße Verbreitungsmöglichkeit. Einerseits stellt Facebook eine benutzerfreundliche Technik zur Verfügung: Livestreaming von Konzerten, Demonstrationen, Silvesterfeuerwerken oder Promiauftritten ist ein lukrativer Markt, den wenige große Anbieter unter sich aufteilen. Andererseits nehmen Facebook und andere Plattformen den Missbrauch der Technik in Kauf: Die Prüfprozesse versagen regelmäßig.

Zwar setzen die Facebook-Standards in der Theorie enge Grenzen, was gepostet und gestreamt werden darf. Angestellte und Algorithmen werden eingesetzt, um problematisches Material auszusortieren, User können kritische Inhalte melden. Doch entgegen eigener Richtlinien wurden in der Vergangenheit Bewegtbilder von Suiziden, Vergewaltigungen, Enthauptungen, Folter und anderen Verbrechen auf Facebook verbreitet. Wie im Fall Cleveland nutzte ein Löschen im Nachhinein nur bedingt: Kopien der Aufnahmen kursieren massenhaft.

Der Grat zwischen Prävention, Willkür und Zensur kann, je nach Einzelfall, schmal sein. Können Algorithmen das Zurschaustellen einer Gewalttat tatsächlich unterscheiden von Aufnahmen, die zum Beispiel Polizeigewalt gegen Schwarze beweisen könnten? Ist es vertretbar, menschliche Mitarbeiter mit dem Filtern hochbrutaler Inhalte zu beauftragen? Sensible Fragen, die durch den Fall Cleveland neue Brisanz gewinnen.

Als Konsequenz steigt der öffentliche Druck auf Facebook. Rufe nach schärferen Auflagen könnten jetzt lauter werden, sagen Experten. Dem Konzern scheint die Gefahr eines Imageschadens bewusst zu sein, er räumte Versäumnisse ein. "Wir wissen, dass wir uns verbessern müssen", teilte Facebook mit. Ungewöhnlich detailliert schilderte der Internetgigant den Melde- und Löschvorgang im Fall Cleveland.

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Gleichzeitig relativierte das Unternehmen die eigene Reue: Die Alarmkette der User sei für die Verzögerung mitverantwortlich, hieß es weiter. Frühe Aufnahmen des mutmaßlichen Täters seien gar nicht gemeldet worden, Hinweise auf das Mordvideo erst nach knapp zwei Stunden eingetrudelt.

Eine grundsätzlichen Fehler im System will sich Facebook weiterhin nicht vorwerfen lassen.

Quelle : spiegel.de

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