In der Region Aachen werden Jodtabletten wegen Atomangst verteilt

  31 Auqust 2017    Gelesen: 2282
In der Region Aachen werden Jodtabletten wegen Atomangst verteilt
Die Angst vor einer Atomwolke ist rund um Aachen groß. Experten zweifeln an der Sicherheit belgischer Atommeiler bei einem Störfall. Die Behörden im Grenzgebiet haben nun reagiert.
Nur knapp 70 Kilometer liegen zwischen Aachen und dem wegen Sicherheitsbedenken umstrittenen belgischen Kernkraftwerk Tihange: Seit Langem herrscht an der Grenze Angst vor einem Atomunfall. Auf deutscher Seite haben die Behörden deshalb nun reagiert - und beginnen diese Woche vorsorglich mit der Verteilung von Jodtabletten. Mit ihnen soll verhindert werden, dass die Schilddrüse radioaktives Jod aufnimmt. Eine Maßnahme, die bisher bundesweit nur in Ausnahmefällen und in sehr begrenzten Bereichen zugelassen wurde.

Wegen der Nähe zum umstrittenen Kernkraftwerk Tihange hatte die Region beim Land Nordrhein-Westfalen darauf gedrungen, die Bevölkerung bereits vor einem etwaigen Unfall mit den Tabletten zu versorgen. Ende 2015 hatten die Aachener Behörden zudem bereits eine atomare Verseuchung in einer Notfallübung durchgespielt. "Die Ausgabe dieser Tabletten ist eine reine Vorsichtsmaßnahme", heißt es in einer Broschüre der Behörden. Politik und Verwaltung halten sie dennoch für nötig.

"Je nachdem wie das genaue Szenario aussieht, haben wir ganz große Zweifel, dass wir es schaffen, Jodtabletten rechtzeitig zu verteilen", sagte Markus Kremer, der in Aachen für die Verteilung zuständig ist. Sofort müssten sie über die ganze Stadt verteilt und an fußläufig zu erreichenden Punkten Ausgabestellen eingerichtet werden, "und das in einer Zeit, wo nicht nur geringe Unruhe entsteht", sagte er zu der Herausforderung.

Alle Menschen bis zu 45 Jahren, Schwangere und Stillende in der Region haben ein Anrecht auf die kostenlosen Tabletten, die Schilddrüsenkrebs verhindern sollen. Sie können Bezugsscheine im Internet beantragen, die sie in beteiligten Apotheken einlösen. Die Behörden rechnen damit, dass mehr als jeder Dritte das Angebot wahrnimmt. Es gebe eine hohe Sensibilität.

In anderen Gegenden des Bundesgebiets werden die Tabletten zentral gelagert - und nur im Bedarfsfall ausgegeben. Damit soll unter anderem verhindert werden, dass die Tabletten zu früh eingenommen werden und nicht wirken.

Die Aachener Familie Vitr hat sich bereits mit den Tabletten eingedeckt. Die Eltern Mirco und Anika tragen die Tabletten immer im Portemonnaie bei sich - auch für ihre fünf und zwei Jahre alten Kinder. Sie sollen nur nach einer entsprechenden Information der Behörden eingenommen werden.

Auch sonst ist die Sorge vor einem Atomunfall bei Familie Vitr groß: "Man hat eine Immobilie, zahlt ab. Was ist, wenn man alles verlassen muss?" fragt sich Mirco Vitr. Der 38-Jährige erinnert sich an seine Kindheit, als er nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl nicht mehr im Sandkasten seines Onkels spielen durfte. Auch im Bekanntenkreis sei ein drohender Atomunfall Thema. Ende Juni hatten rund 50.000 Menschen mit einer knapp 90 Kilometer langen Menschenkette für die Abschaltung von Tihange und dem ebenfalls nahegelegenen Doel 3 bei Antwerpen demonstriert.

Durch die Verteilung der Tabletten ändert sich laut dem Heidelberger Psychologen Joachim Funke auch das Empfinden der Menschen: "Mit der Verteilung von Jodtabletten erhöht sich die Risikowahrnehmung, weil die Behörden ja offensichtlich den Eindruck haben, dass sie ihre Strategie ändern müssen."

Je nach Typ reagierten Menschen ganz unterschiedlich auf die Situation: Die einen würden mehr grübeln, die anderen meinten, sie hätten mit den Jodtabletten alles unter Kontrolle. "Aber das ist nur eine Scheinkontrolle. Denn mit den Jodtabletten habe ich ja nicht wirklich Kontrolle über das Geschehene", sagt Funke.

Quelle : spiegel.de

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