Es ist ein ruhmloser Abschied einer einst als ruhmreich gefeierten Armee: Am 1. September 1994 verlässt der letzte russische Soldat deutschen Boden - fast 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bei den Feierlichkeiten zum russischen Abzug im Juni 1994 dirigiert Präsident Boris Jelzin - sichtlich angetrunken - im Beisein von Bundeskanzler Helmut Kohl das Berliner Polizeiorchester. Zu dieser Zeit ist Russland ein taumelnder Riese, von Stärke keine Spur. Fast drei Jahre zuvor hatte sich die Sowjetunion aufgelöst.
Es ist ein trauriger Abzug einer Siegermacht, zumal dieser mit deutschen Milliarden und einer Lebensmittelhilfe noch gestützt wird. Mehr als eine Million Armeeangehörige werden in die Heimat zurückgeführt, in eine ungewisse Zukunft. Unwürdiger kann der Rückzug einer Armee - ohne eine militärische Niederlage erlitten zu haben - vom Territorium des Weltkriegsverlierers Deutschland nicht sein.
Fast ein Vierteljahrhundert später präsentiert sich Russland unter Jelzins Nachfolger Wladimir Putin wieder erstarkt - politisch, ökonomisch und militärisch. Die Militärparaden auf dem Roten Platz in Moskau zum Tag des Sieges am 9. Mai sind eine Schau moderner Waffen - ein Signal der Stärke gegenüber dem Westen. Und dieser nimmt Russland ernst. Putin selbst spielt auf der patriotischen Klaviatur. Anlässlich des Endes der Schlacht um Stalingrad vor 75 Jahren appellierte er an die Russen, "sich an den Taten der Väter und Großväter ein Beispiel zu nehmen".
Während des Bürgerkrieges gegründet
Er stellt damit eine Verbindung zu den Traditionen der Sowjetarmee her, die als Rote Armee vor 100 Jahren in den Wirren nach der Oktoberrevolution gegründet wurde. Noch heute stehen jedes Jahr am 23. Februar in der Föderation die Streitkräfte im Mittelpunkt. Aus dem "Tag der Sowjetarmee und Seestreitkräfte" wurde nach dem Zerfall der UdSSR Ende 1991 der "Tag des Verteidigers des Vaterlandes".
Die Revolution des Jahres 1917 war in Gefahr. Die herrschenden Bolschewiki um Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin waren gezwungen, eine Arbeiter- und Bauernarmee zu bilden. Der 1918 ausgebrochene Bürgerkrieg gegen die sogenannten Weißgardisten sowie die Intervention ausländischer Truppen bedrohten die Sowjetmacht, die Roten kontrollierten nur noch einen kleinen Teil des riesigen russischen Territoriums. Die Führung um Lenin beschloss, eine Arbeiter- und Bauernarmee zu bilden. Im März 1918 übernahm Leo Trotzki die Führung der Roten Armee und baute sie systematisch auf.
Er war erfolgreich und die junge Armee besiegte ihre in- und ausländischen Gegner. Es war die Opferbereitschaft von Millionen Rotarmisten, die Sowjetrussland, das Ende 1922 zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) umbenannt wurde, nicht bereits zu diesem Zeitpunkt in die Annalen der Geschichte verschwinden ließ. Wegen eines Mangels an Führungskräften fanden in dieser Zeit auch Generäle und Offiziere der alten zaristischen Armee Zugang zur Roten Armee - rund 75.000 waren es am Ende des Bürgerkrieges 1921/22. Mit diesem Prozess wurde die Wehrpflicht eingeführt.
Stalins Terror schwächt Führungsstruktur
Die Rote Armee hatte ihre Feuertaufe bestanden - mit riesigen Verlusten an Menschen und Material. Doch der junge kommunistische Staat agierte zu Beginn der 1920er-Jahre aus der Position der Schwäche heraus, ökonomisch wie auch militärisch. Unter Lenins Nachfolger Josef Stalin wurden die Grundlagen für eine massive Aufrüstung geschaffen. So lag die Friedensstärke der Roten Armee am Ende 1929 bereits bei rund 700.000 Mann, 1933 war sie eine Millionenarmee.
Doch konsolidieren konnte sich die Rote Armee nicht, denn Stalins Terrorregime verschonte auch ihre Spitze nicht. Kaum einer ihrer Gründer starb eines natürlichen Todes. Viele Kommandeure wurden in den 1930er-Jahren durch die eigenen Leute eliminiert. So fielen Kommandeure wie Pawel Dybenko oder Wladimir Antonow-Owsejenko 1938 dem "Großen Terror" zum Opfer. Trotzki, der bereits 1925 als Armeechef abgesetzt worden war, wurde 1940 in seinem mexikanischen Exil ermordet. Auch jüngere, aufstrebende Militärs wie Michail Tuchatschewski kamen zu Tode. Insgesamt wurden mehr als 34.000 Offiziere abgesetzt, für die meisten führte der Weg ins Arbeitslager (Gulag).
1941 waren die sowjetischen Streitkräfte so geschwächt, dass die deutsche Wehrmacht in den ersten Monaten nach dem Überfall auf die UdSSR am 22. Juni sehr schnell ins Landesinnere vorstoßen konnte. Dazu kam noch die Fehleinschätzung der Führung um Stalin hinsichtlich der deutschen Angriffsvorbereitungen. Der Diktator hatte trotz Warnungen nicht an einen deutschen Angriff geglaubt. Bis zum Jahresende 1941 verlor die Rote Armee mehr als drei Millionen Soldaten und Offiziere. Sie fielen oder gerieten in Gefangenschaft, wo Hunderttausende Soldaten starben.
Die Rote Armee litt auch unter gravierenden logistischen Problemen, die bereits im sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/40 zutage traten. So mangelte es zum Beispiel an Lastwagen für die Versorgung der Panzereinheiten und Artillerie mit Treibstoff und Munition. Eine riesige Kraftanstrengung war notwendig, um den deutschen Angriff vor Moskau zu stoppen. In dieser Zeit verwandelte sich die UdSSR in ein gewaltiges Heer- und Arbeitslager, in dem nur ein Ziel galt: Die Rote Armee in kürzester Zeit mit allem Notwendigen für den Sieg zu versorgen: Nahrungsmittel, Treibstoff, Panzer, Flugzeuge, Geschütze, Soldaten. Die Sowjetführung verlegte Rüstungsbetriebe aus dem Westen, den die Deutschen überrollten, in den Ural. Binnen kurzer Zeit wurden die Streitkräfte waffentechnisch modernisiert. Die Wende gelang: Die Schlacht von Stalingrad 1942/43, bei der die sowjetischen Streitkräfte die 6. Deutsche Armee vernichtete, war mitentscheidend für den Ausgang des Zweiten Weltkrieges.
Millionen gefallener Soldaten
Trotz ihrer Siege waren die Verluste der Roten Armee enorm. Die Sowjetunion trug die Hauptlast im gemeinsam mit den Westalliierten gewonnenen Krieg gegen Hitlerdeutschland. Ihre Streitkräfte verloren Schätzungen zufolge, die auf Angaben der Regierung zurückgehen, rund 13 Millionen Mann. Diese Zahlen variieren allerdings. Eine von Verteidigungsminister Dmitri Jasow eingesetzte Kommission ermittelte von 1987 bis 1991 8,6 Millionen gefallene sowjetische Soldaten und fast 28 Millionen getötete Zivilisten.
Letztlich allerdings ging die UdSSR gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. 1950 hatten die Streitkräfte eine Friedensstärke von knapp 4,5 Millionen Soldaten. Bis 1955 wurde sie um eine Million Mann erhöht. Die Sowjetarmee, wie sie seit 1946 offiziell hieß, stationierte Truppenkontingente in ihren europäischen Satellitenstaaten und bis 1955 in Österreich.
Seit 1949 im Besitz der Atombombe, wurde die UdSSR neben den USA zur zweiten Supermacht und Hauptmacht des der Nato gegenüberstehenden Warschauer Paktes. Das Wettrüsten mit den Vereinigten Staaten ließ die Militärausgaben ansteigen, sie betrugen im Jahr 1980 umgerechnet rund 200 Milliarden US-Dollar. Die Konzentration der Sowjetunion auf den militärisch-industriellen Komplex überforderte allerdings ihre ökonomischen Ressourcen, sie konnte am Ende ihre Bevölkerung nicht mit dem Nötigsten versorgen.
Drill und "Dedowschtschina"
Für die Menschen der von der Sowjetunion beherrschten Ostblockstaaten waren ihre Soldaten Besatzer. In der DDR (1953), Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) schlugen sowjetische Einheiten Demokratiebewegungen nieder. Im Osten Deutschlands lebten die sowjetischen "Freunde" hinter Mauern in den Kasernen und blieben zumeist Fremde. Die beschworene "unverbrüchliche Freundschaft" war eine Worthülse. Fast nur zu staatlichen Feiertagen wurden Sowjetsoldaten in Betriebe, Schulen oder NVA-Kasernen eingeladen.
Auch die Lage der Soldaten in den sowjetischen Kasernen, die nach dem Krieg zumeist von der Wehrmacht übernommen wurden, war schlecht. Ihre drei, später dann zwei Wehrdienstjahre verbrachten sie fast ausschließlich in den Kasernen, in denen Drill und die "Dedowschtschina" ("Herrschaft der Großväter") herrschte. Rekruten wurden von Dienstälteren unterdrückt, es kam zu Gewaltexzessen, die die Soldaten nicht selten zum Suizid trieben. Diese Missstände gab es auch in den Kasernen im eigenen Land.
Sie sind auch ein Ergebnis einer tiefen Krise des Vielvölkerreiches, die durch Ereignisse wie die Invasion in Afghanistan Ende 1979 beschleunigt wurde. Die sowjetischen Truppen sahen sich dort einem ungewohnten Guerillakrieg ausgesetzt. Mit diesem Konflikt handelte sich die Sowjetunion weitere moralische Probleme sowie starke materielle und personelle Abnutzungserscheinungen in ihren Streitkräften ein. Tausende Soldaten verloren ihr Leben. KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow befahl 1988 den Abzug. Während des im August 1991 von konservativen Kräften der Staatspartei angezettelten Putsches gegen Gorbatschow weigerten sich die Soldaten, auf das eigene Volk zu schießen.
Als das Riesenreich Ende 1991 zerfallen war, herrschten in den Streitkräften chaotische Zustände. Zunächst ging die Befehlsgewalt von der Sowjetunion auf die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) über, später zur Russischen Föderation. Russland übernahm das strategische Militärpotenzial sowie den Großteil der Truppen. Die in der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan stationierten Atomwaffen wurden ebenfalls nach Russland gebracht. Das Ende der Sowjetunion bedeutete auch das Ende der Sowjetarmee.
Verfassungskrise, Tschetschenien-Kriege und Krim-Annexion
Die russischen Streitkräfte als Rechtsnachfolger übernahmen auch ihre Probleme. Sie befanden sich in einem desolaten Zustand. Präsident Jelzin veranlasste im Mai 1992 die Schaffung einer Streitmacht mit etwa 1,5 Millionen Mann. Er musste die Truppen aus Ostdeutschland, aus dem Gebiet der Ex-DDR zurückholen. Der finanziell klamme Staat fuhr die Rüstungsausgaben zurück. Zudem wurden die Streitkräfte in innenpolitische Auseinandersetzungen hineingezogen. Während der Verfassungskrise im Oktober 1993 zwischen dem Präsidenten und dem Obersten Sowjet setzte Jelzin die Armee ein und ließ das Parlamentsgebäude beschießen.
Zudem wurde die Armee in beiden Tschetschenien-Kriegen (1994-1996 und 1999-2002) eingesetzt, bei denen offiziellen Angaben zufolge mehr als 4500 Soldaten starben. 2008 kam es zum kurzen Krieg gegen Georgien und 2014 erfolgte die Annexion der Krim, bei der Moskau zunächst die Anwesenheit von regulären russischen Einheiten bestritt. Derzeit unterhält Russlands Armee fast 800.000 Soldaten. Dazu kommen mehr als 2,5 Millionen Reservisten.
Unter Präsident Putin wuchsen die Militärausgaben von 2010 bis 2016. Für das laufende Jahr sind allerdings wieder Kürzungen geplant. In Syrien sorgte Russland vor allem durch den Einsatz der Luftwaffe für einen Umschwung zugunsten des Regimes von Präsident Baschar al-Assad. Durch seine militärische Stärke spielt Russland auch international wieder eine wichtige Rolle. Die Militärs sind mit ihrem Staatschef zufrieden, denn er hat den russischen Streitkräften wieder ihren Stolz zurückgegeben.
Quelle: n-tv.de
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