Der Tod riecht nach wilden Zwiebeln

  15 Mai 2018    Gelesen: 1294
Der Tod riecht nach wilden Zwiebeln

Der Sohn von Abraham Lincoln ist verstorben - aber irgendwie doch nicht ganz: Mit seinem Roman über die Vorhölle gelingt Booker-Prize-Gewinner George Saunders eine tragikomische Vater-Sohn-Geschichte.

 

Es riecht immer stärker nach wilden Zwiebeln. Es liegt an Willie. Höchste Zeit für ihn zu gehen, finden die anderen. Endgültig. Wilder-Zwiebel-Duft, Zeichen des Übergangs. Denn William Wallace Lincoln ist tot. Aber noch nicht im Jenseits angekommen. Er hängt hier fest, im Leben nach dem Tod. Der Präsidentensohn mit der Stirntolle war elf, dann kam 1862 der Typhus, das Ende. Und nun stinkt er so langsam.

Die drei, die ihn dort, gefangen im Transit, wie Anstandsherren begleiten, hängen selbst im Schattenreich fest: Roger Bevins III, der merkte, dass er Männer liebt, und sich verzweifelt die Pulsadern aufschnitt. Hans Vollman, ein ältlicher Herr, der just dann von einem Balken erschlagen wurde, als er an seine junge Gattin dachte - und nun permanent mit steifem Schwanz herumlaufen muss, mitunter etwas unpraktisch. Und Reverend Everly Thomas, der mit 80 starb, und als einziger weiß, dass das Schlimmste noch kommt.

Es klingt schon durch: Dieses Mittelreich, das George Saunders in "Lincoln im Bardo" schuf, ist von großer, herzzerreißender Tragikomik. Nur das Wesentliche zählt in der Phase des buddhistischen "Bardo", einem Zwischenzustand wie der Limbus, jene Vorhölle für ungetaufte Kinder, die erst Papst Benedikt XVI. abschaffte.

Aber Saunders hat mit diesem Roman eine Ode ans Leben geschrieben, die eher wie ein Shakespeare-Drama mit griechischem Chor klingt: Nicht nur wegen der Stimmen von Bevins, Vollman und dem Reverend, die durcheinander quasseln und sich ermahnen, wenn einer über die Stränge schlägt. Sondern auch weil es im Grunde eine Vater-Sohn-Geschichte ist, durchtränkt von Trauer. Weil der Vater seinen Sohn vermisst. Und der Sohn seinen Vater.


Die Mittel, die der bisher vor allem als Autor von Erzählungen bekannte George Saunders für seinen Debütroman fand, sind außergewöhnlich. So sehr, dass man ihm für dieses Buch konsequenterweise den Booker Prize 2017 verliehen hat. Die Geschichte wird nämlich ausschließlich von zwei Chören getragen.

Historische Wahrheit zutiefst subjektiv in Frage stellen

Da ist zum einen also das Trio um Bevins, Vollman und dem Reverend, abgehackte Wortmeldungen von Willie und ein paar anderen Schattengeistern inklusive. Sie langweilen sich furchtbar, dabei wollen sie nur Frieden finden. Und dazu lässt Saunders einen Collagen-Chor auftauchen: Buchzitate über Lincoln, die er via Copy-Paste zu ganzen Szenerien wachsen lässt.

Die sich allerdings widersprechen. Etwa in den allein elf Passagen über den Mond an jenem Partyabend im Weißen Haus, als Willie oben im Sterben liegt. "Golden" sei er gewesen, sagen die einen, andere wollen "eine fette grüne Sichel" gesehen haben, einen "gelbroten" Vollmond oder nein, Quatsch, alles war dunkel, bewölkt, ja: mondlos.

Wie diese Sätze kommentarlos untereinander stehen, korrekt mit Quellenangabe, ist nicht nur Absatz für Absatz mehr erheiternd. Saunders dokumentiert so die Besessenheit, Lincoln zu porträtieren und zu erklären - und schafft es zugleich, historische Wahrheit als zutiefst subjektiv in Frage zu stellen.

Der Effekt: Übrig bleibt reine Menschlichkeit. Liebe, Verlust, Trauer. Eltern, Kinder, Tod. Und somit Empathie mit allen drumrum. Nicht nur unter den Halbtoten, die sich necken, wortlos beschließen, sich und andere zu retten und sich mit all ihren diesseitigen Verfehlungen annehmen. Wenn es ein literarisches Abbild von bedingungsloser Liebe gibt, dann ist es wohl diese Chorgruppe. Sie haben nur sich. In dieser gähnenden Ödnis.

spiegel


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