Berlin und Paris „besetzen“: Russlands Ziele und Platz in Europa

  30 Mai 2018    Gelesen: 390
Berlin und Paris „besetzen“: Russlands Ziele und Platz in Europa

Jedes Mal, wenn die geopolitische Lage auf die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit der Annäherung Russlands und des alten Europas hinweist, das sich aus den Fängen der USA zu befreien versucht, erwachen in der russischen Medienlandschaft, in den sozialen Netzwerken und sogar in der Expertengemeinschaft antieuropäische Ressentiments.

Aus der Sicht der gesellschaftlichen Wahrnehmung in Russland versprüht Europa viel negative Energie. Vielen ist unklar, warum man überhaupt positive Beziehungen zu den europäischen Ländern aufbauen sollte, während Hitzköpfe sogar vorschlagen, den europäischen Verbrauchern den Gashahn zuzudrehen, weil sich viele europäische Politiker in die Ukraine-Krise eingemischt haben. Dabei wird jede Form der russisch-europäischen Kooperation häufig als ein Zeichen von Schwäche ausgelegt, die es schnell loszuwerden gilt.

Ein Teil der russischen Gesellschaft stellt de facto die Frage: Warum können wir die Beziehungen zu Europa nicht kappen und uns den Projekten zur Schaffung eines gesamteuropäischen (Sicherheits-)Raums verweigern?

Bei pragmatischer Betrachtung der Sachlage lautet die Antwort auf diese Frage wie folgt: Russland sollte selbst nicht das tun, wozu die Nato geschaffen wurde. Einer der Nato-Architekten, der britische Politiker und General Hastings Lionel Ismay, äußerte sich über die Funktion der Nato in Europa so: „To keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“. Würde der russische Staat den pseudo-patriotischen Aufrufen folgen und die Beziehungen zur EU einfrieren bzw. kappen und an den Grenzen zu Europa einen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Eisernen Vorhang einrichten, würde es in Europa sicher keinen russischen Einfluss geben. Der Einfluss der USA würde dominieren. Deutschland würde in diesem Fall überhaupt keine Chance haben, sich des Status als Befehlsempfänger Washingtons zu entledigen. Die Befürworter einer harten Politik gegenüber der EU streben im Grunde dieselben Ziele an, für die Russlands Feinde die Nato ins Leben gerufen hatten.

2015, am Höhepunkt der Ukraine-Krise und am Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Russland und Europa, wurde eine Formel vorgeschlagen, die damals viele empörte: „Wir brauchen Berlin und nicht Kiew“. Damals konnten nur Optimisten vermuten, dass der französische Präsident drei Jahre später vor Wladimir Putin beim St. Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum (SPIEF) die Osterweiterung der Nato bereuen und gegenüber dem russischen Staatschef beklagen wird, dass Europa „nicht genug Souveränität“ gehabt habe, doch dies sei eben geschehen.

Eines der wichtigsten Argumente gegen jedwede Versuche, gleichberechtigte und produktive Beziehungen zwischen Russland und Europa aufzunehmen, besteht in dieser These:

„Die Europäer werden nie wegen Russland auf die US-Märkte verzichten, weshalb es keinen Sinn hat zu versuchen, Europa von den USA abzutrennen“.

Das ist eine sehr kurzsichtige und naive Position. Niemand erwartet, dass Europa auf etwas wegen Russland bzw. der Kooperation mit Russland verzichten wird. Die europäischen Eliten sollten ihren Überlebensinstinkten folgen, wenn sie weiterhin an ihr Zivilisationsprojekt eines geeinten Europas glauben wollen. Dazu müssen sie auf Distanz zu den USA gehen und alle Möglichkeiten nutzen, die die Kooperation mit Russland bietet.

Wie wichtig ist der Zugang zu den US-Märkten denn tatsächlich, wenn die US-Gesetze deutlich härter mit europäischen Unternehmen umgehen als umgekehrt? Dieser Zustand wird mit der Unterzeichnung des Transatlantischen Handelsabkommens noch gefestigt. Wie wichtig ist der Zugang zu den US-Märkten denn tatsächlich, wenn Europa Hunderte Milliarden Dollar pro Jahr für die US-Rüstungsindustrie zahlen soll, wie Donald Trump es nun fordert? Über welche wirtschaftliche Entwicklung kann gesprochen werden, wenn die Amerikaner die europäische Industrie zum Kauf von teurem US-Flüssiggas zwingen?

Die Aufzählung der Probleme des Projekts Europa kann fast endlos weitergeführt werden, doch man sollte verstehen, dass Europas Schwäche zusätzliche Möglichkeiten für Russland bedeutet. Heute ist es einfacher, mit einer schwächer werdenden, dezentralisierten, durch die ewige Finanzkrise verängstigten und durch den Brexit traumatisierten EU zu verhandeln, als jemals zuvor. Es ist auch die einmalige Chance, Beziehungen zu für Russland vorteilhaften Bedingungen aufzubauen. Dass die amerikanischen Medien und Experten wegen der Annäherung Russlands und der EU in Panik geraten, ist der beste Beweis für die Richtigkeit eines solchen Herangehens.

Die EU ist trotz aller Probleme immer noch ein sehr zahlungskräftiger Markt und einer der Anführer in den Bereichen Forschung, Technik und Hightech. Angesichts der wachsenden globalen Konkurrenz wäre es unvernünftig, auf die Synergie-Effekte zu verzichten, die sich für die russische Wissenschaft und Unternehmen eröffnen, wenn die russisch-europäische Kooperation entpolitisiert und von den giftsprühenden Vorurteilen der Politiker aus Übersee unabhängig wird.

Viele machen sich bei uns lustig über die Europäer, die heute als willensschwach erscheinen und angeblich den kriegerischen Geist ihrer Vorfahren verloren haben. Doch die Praxis zeigt, dass jede Zivilisation Überraschungen bringen kann und nicht statisch ist. In dem unterdrückten, moralisch zerfallenen Russland der 1990er Jahre konnte kaum jemand das heutige Potential erkennen. Zudem sollte man keine Verachtung gegenüber dem geschwächten Europa empfinden. Im Gegenteil: Man sollte Respekt gegenüber dem heutigen Europa haben, das zwar kaum noch Schlagkraft, doch viel Angst vor der Außenwelt hat. Man sollte den Respekt aufbringen, den ein guter Unternehmer einem zahlungskräftigen Kunden erweist.Die nach Harmonie strebenden Europäer könnten ein gewinnbringendes Geschäft sein. Es ist kein Zufall gewesen, dass Putin Macron russische Dienstleistungen unter der Gewährleistung der europäischen Sicherheit vorgeschlagen hat. Das Demonstrieren der russischen Möglichkeiten in Syrien ist eine gute Werbung für solche Angebote. Umschreibt man die Äußerung des Generals Ismay, könnte man sagen, dass der gemeinsame Sicherheitsraum, über den Macron und Putin in Sankt Petersburg sprachen, nach folgender Formel gestaltet werden könnte: „Die USA in Europa nicht zulassen, russische Interessen in Europa gewährleisten und die europäische Unabhängigkeit aufrechterhalten.“ Wenn die europäische politische Elite diesem Schema zustimmt, würde der Albtraum der US-Strategen sofort geopolitische Realität.

sputniknews


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