"Ich will keine Blumen, ich will Sex"

  17 Juni 2018    Gelesen: 1171
"Ich will keine Blumen, ich will Sex"

Julia liebt Patrick, Patrick liebt Julia. Sie sind glücklich, haben Sex. Doch plötzlich empfindet Patrick kein körperliches Verlangen mehr - und schweigt. Julia, die nichts von dem Geheimnis ihres Freundes weiß, sucht verzweifelt nach einer Antwort.

 

"Am schlimmsten war dieses ewige Schweigen, das hat mich wahnsinnig gemacht!" Julia sitzt in einem Café und schaut aus den bodentiefen Fenstern, vor denen es die Leute in Scharen in den nahegelegenen Park zieht. Es ist heiß an diesem Tag. Paare halten sich an den Händen, Verliebte küssen sich zärtlich. "So waren wir auch, genau so!", sagt Julia kopfschüttelnd. "Ich hätte es merken müssen, aber ich habe nicht ein einziges Mal daran gedacht."


Julias Geschichte ist eine Geschichte über Liebe, sexuelles Verlangen und Verzweiflung, eine Geschichte über eine Beziehung mit einem Mann, den sie, wie sie sagt, irgendwo immer noch liebt, aber den sie aus einem ganz bestimmten Grund gehen lassen musste. Dabei fing alles so traumhaft an.

Julia lernt Patrick auf einer Ausstellung kennen, ein hochgewachsener, sportlicher Mann mit neugierigen Augen und einem schelmischen Lächeln: "Wir verliebten uns sofort", erinnert sie sich und glaubt, "dass das unsagbar kitschig klingt."

Schnell wird der jungen Frau klar: Mit Patrick ist alles anders. Nie zuvor in ihrem Leben war sie so umhegt worden. Patrick liest ihr jeden Wunsch von den Lippen ab. Wenn sie ihn besucht und abends auf seinem Sofa einnickt, trägt er sie ins Bett und deckt sie liebevoll zu. Er überschüttet sie mit Aufmerksamkeit, er kocht, bürstet ihr Haar, manchmal reden sie die ganze Nacht, bis die ersten Vögel anfangen zu zwitschern.

So fühlt sich Liebe an


Dass es Patrick mit dem Sex nicht eilig hat, stört Julia nicht - im Gegenteil. "Es fühlte sich so kostbar an, was wir da hatten." Doch wenn sie heute darüber nachdenkt, wundert sie sich, dass sie keinerlei Verdacht schöpfte. Und Vorwürfe macht sie sich auch.

Patrick ist Julias Traummann, ein richtiger Märchenprinz. Und er wäre es immer noch, wenn da nicht diese Sache wäre, mit der sie nicht leben konnte. "Manchmal", sagt sie, "sahen wir uns einfach nur minutenlang tief in die Augen. Und wenn er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich oder mich küsste, dachte ich immer: So fühlt sich Liebe an."

Nach sechs Wochen schlafen sie das erste Mal miteinander. Es wird stürmisch und auch ein bisschen verrückt. Sie lieben sich in fremden Treppenhäusern und auf Dächern alter verlassener Backsteinfabriken. Zum Spaß breiten sie die Arme wie Flügel aus, weil ihnen, so scheint es, von da oben alles zu Füßen liegt: die Stadt, die Welt, das ganze Leben.

Als Patrick und Julia sich auf dem Fabrikdach lieben, verletzt er sich an einem rostigen Nagel, Julia zerkratzt sich die Knie an der rauen Dachpappe. Sie stöhnen, sie schwitzen, sie kommen und er schmiedet Pläne: "Nächste Woche fahren wir ans Meer."

"Eine Beziehung ist mehr als nur Sex"


Doch nach dem zwölften Mal ist Schluss. Julia weiß es genau. Dass Patrick schon so früh in ihrer Beziehung nicht mehr mit ihr schlafen will, macht sie anfangs kein bisschen stutzig. Die Gründe liegen auf der Hand. Patrick ist selbstständig und arbeitet viel. Akquise, Überstunden, Alltagsstress. Dazu die Übermüdung, wenn er auf Messen fährt.

Ein paar Wochen Pause, was ist schon dabei? Julia liebt Patrick, Patrick liebt Julia.

Dass die sexlose Zeit sich von vier Wochen auf vier Monate ausdehnt, verdrängt sie erfolgreich. Einmal, als sie mit ihm schlafen möchte und er sie wieder einmal abweist, sagt er, eine Beziehung sei mehr als nur Sex. "Da fühlte ich mich unheimlich blöd. Als wäre ich so ein sexsüchtiges Monster, das ihm auflauert!"

Nur ganz langsam beginnt es, an Julia zu nagen.

Abends ist Patrick für Sex zu müde, morgens verlässt er sehr früh das Haus. Annäherungen, die über die üblichen Zärtlichkeiten hinausgehen, wehrt er mit einem charmanten Lächeln und einer stets nachvollziehbaren Ausrede ab. Dafür verreisen sie viel. Patrick zeigt Julia die schönsten Flecken der Erde. Am Wochenende bekommt sie Blumen und Kaffee ans Bett.

Er kocht, kauft einen Hund und bald darauf eine Datsche am See. Julia fühlt, wie sehr er sie liebt. Doch sie ist wütend. Nicht nur auf Patrick, viel mehr auf sich selbst. "Ich hatte schreckliche Schuldgefühle. Wie konnte ich nur so undankbar sein? Ständig ertappte ich mich bei dem Gedanken, weder eine Datsche noch verreisen zu wollen. Ich wollte nicht schon wieder nach Paris, ich wollte mit ihm schlafen!"

Julia entwickelt neue Strategien. Noch immer redet sie sich ein, es läge nur an den Umständen oder aber er hat irgendeinen Fetisch und traut sich (noch) nicht, ihn auszuleben. Sie testet alles Mögliche: Reizwäsche, "Dirty Talk", sie rekelt sich nackt auf dem Küchentisch, während er am Herd steht und Spaghetti kocht. Doch Patrick lässt sich nicht ablenken und - schweigt beharrlich. Zu allem.

Nichts kann dieses Schweigen brechen. Auch nicht der Umstand, dass Julia eines Tages vor lauter Verzweiflung anfängt, ihn anzubrüllen und das Geschirr aus dem Küchenfenster zu werfen. Sie kann nicht mehr, sie will jetzt wissen, was los ist. "Als ich ihn fragte, ob er schwul sei, verneinte er, ich schrie ihn an, er nahm mich in den Arm, ich rastete aus, er tröstete mich, ich drohte, ihn zu verlassen, er weinte."

Ein sexloses Jahr und erste Hoffnung


Was immer Julia auch fragt: Wenn es um Sex geht, erhält sie von Patrick keine Erklärung, kein Sterbenswörtchen. Dabei hatten sie Sex - früher! Und es war schön. Das einzige Mal, als er etwas zu alldem sagt, meint er, das sei nur eine momentane Phase. "Da war es schon über ein Jahr, dass wir nicht mehr miteinander geschlafen hatten."

Julia beginnt, Patrick hinterher zu schnüffeln. Sie muss seinem Geheimnis auf die Schliche kommen. Ist er vielleicht krank? Masturbiert er überhaupt? Die Ex-Freundin möchte sie nicht fragen, sie will Patrick nicht kompromittieren. Dann, Wochen später, ein Hoffnungszeichen: Julia entdeckt auf Patricks Computer Fotos nackter Frauen. Normale Frauen in normalen Posen, keine Pornodarstellerinnen mit falschen Brüsten. Er muss also doch an Sex interessiert sein.

Doch alles bleibt beim Alten. Julia fühlt sich immer schuldiger. "Ich hasste mich richtig, weil ich alle paar Wochen mit diesem Thema anfing. Ich sagte mir: Warum kannst du nicht endlich Ruhe geben? Du machst noch alles kaputt!"

Julia redet sich ein, auch ohne Sex mit Patrick glücklich zu sein.

Eine zu späte Erkenntnis


Doch es beschämt sie immer mehr, dass der Mann, den sie liebt, nie mit ihr schläft und ihr auch nie erklärt, warum nicht. Immer öfter stellt sie sich jetzt vor, Sex mit jemand anderem zu haben. Vielleicht würde das Patrick ärgern. Julia ist 32 Jahre alt, sie empfindet Lust, sie will auch körperlich geliebt werden.

Es ist purer Zufall, dass sie von Patricks Geheimnis erfährt: Der Mann, den sie liebt, mit dem sie Kinder haben möchte, ist asexuell. Er hat sich intensiv informiert, Lektüre darüber findet sie gut versteckt hinter Patricks Büchern. Julia rieselt es wie Schuppen von den Augen. Patrick empfindet keine sexuelle Anziehungskraft, weder zu Frauen noch zu Männern. Kein erotisches Verlangen, keine Lustgefühle - gar nichts. Zumindest nicht auf der körperlichen Ebene. Fast zwei Jahre sind sie da schon zusammen. Plötzlich fügt sich das emotionale Puzzle zu einem klaren Bild zusammen.

Sie will Patrick darauf ansprechen, aber sie ist zu erschöpft. Sie hat keine Kraft mehr. Sie wundert sich, dass sie nicht selbst drauf gekommen ist: "Vielleicht", sagt sie, "weil wir ja anfangs miteinander schliefen."

Das Problem wächst ins Unermessliche und die Stille, mit der Patrick sich einhüllt, verzehrt Stück für Stück Julias Liebe. Sie wird Patrick verlassen, doch der Gedanke daran schnürt ihr die Kehle zu. Als sie Monate später das erste Mal mit einem anderen Mann schläft, fühlt es sich wie ein Verrat an. Erst, als sie sich vorstellt, dass es Patrick ist, der sie so leidenschaftlich küsst, wird sie ruhiger.

In den ersten Monaten in der neuen Beziehung denkt sie beim Sex noch oft an Patrick. "Das machte meine Trauer um das Leben an Patricks Seite irgendwie erträglicher. Ich wäre geblieben. Wir hätten eine Lösung gefunden. Aber dieses Schweigen konnte ich einfach nicht mehr ertragen. Er hätte es doch einfach sagen können!"

Quelle: n-tv.de


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