Es war einmal eine kleine Stadt im äußersten Norden von Brandenburg. Die Stadt hieß Gartz, was laut ausgesprochen wie der Auswurf eines ketterauchenden Fuhrkutschers klingt. Das passte, schließlich war die Vorstellung, in Gartz zu leben, für die meisten Menschen ähnlich attraktiv wie Raucherhusten: Kultur? Fehlanzeige! Arbeit? Fehlanzeige! Bildung? Nur bis zur Grundschule. Dass die hübsche und zugleich ziemlich einsame Endmoränenlandschaft der Uckermark das Gefühl allgemeiner Abgehängtheit noch verstärkte - eh schon geschenkt. Völlig ohne schlechtes Gewissen konnte man also sagen: Wenn irgendwo der Hund tot über dem Zaun hing, dann in Gartz. Bis die Polen kamen.
Vor ziemlich genau zehn Jahren runzelte Frank Gotzmann die Stirn ob der Studie, die da gerade aus Potsdam gekommen war: Um rund 33 Prozent sollte die Bevölkerung in seinem Amt bis 2030 schrumpfen, hatten die Statistiker aus der Landeshauptstadt berechnet. Die Jungen würden weiterhin aus den abgehängten Regionen Richtung Berlin verschwinden, die Alten immer schneller wegsterben - in Brandenburg machten sich die Folgen des demografischen Wandels auch 2008 schon deutlich bemerkbar. Gotzmann, der als Amtsdirektor die Geschicke von Gartz und den umliegenden Gemeinden lenkt, zerbrach sich mit seinen Kollegen den Kopf darüber, wie sich die deprimierende Entwicklung stoppen ließe.
Die Antwort lag nur eine halbe Autostunde entfernt im polnischen Stettin: "Die Bevölkerung sollte auf der polnischen Seite bis 2030 um 300 Prozent wachsen, der reinste Wahnsinn im Vergleich zu uns", sagt Gotzmann heute, während er in seinem Gartzer Büro die Prognosen von damals zusammensucht. In und um Stettin passierte deshalb das, was immer passiert, wenn die Nachfrage das Angebot rechts überholt: Die Grundstückspreise explodierten, mittlerweile kostet ein Quadratmeter in Polen 75 Euro - in Gartz liegt der Quadratmeter dagegen bei 13 Euro, auf den Dörfern sogar nur bei paradiesischen 5 Euro. "Wir haben beschlossen, uns das zunutze zu machen", sagt Gotzmann.
"Gab keine Probleme mit den frühen Einwanderern"
Der Amtsdirektor legte ein Programm auf, das Anreize für polnische Familien schaffen sollte, sich in Gartz niederzulassen. Seit dem Beitritt Polens zum Schengen-Abkommen 2007 war die Grenze kein Problem mehr, die ersten Familien ließen sich schon 2008 in Gartz und Umgebung nieder. Zunächst allerdings glich der polnische Zuzug eher einem Tröpfeln als einem Strom: "Wir haben das nicht forciert, sondern erst mal geschaut, wie sich das entwickelt und wie die alteingesessene Bevölkerung auf die Neuen reagiert", sagt Gotzmann. Dass der Amtsdirektor die richtige Entscheidung getroffen hat, zeigte sich schon kurz nach der Grenzöffnung am Negativbeispiel des gerade einmal 40 Kilometer nördlich gelegenen Löcknitz.
Die vorpommersche Stadt startete mit denselben Voraussetzungen, warb aber intensiv um polnische Zuwanderer - und stand kurz darauf vor einer Miniaturversion der Flüchtlingskrise: Zu viele Menschen kamen zu schnell nach Löcknitz, jedenfalls für den Geschmack der Alteingesessenen, die sich plötzlich fremd in der eigenen Stadt fühlten. Dass viele der Neu-Löcknitzer bei ihrer Ankunft als Allererstes Sozialhilfe beantragten, bestätigte die Ureinwohner in ihren Ängsten, resümiert Gotzmann. Rechtsextreme schlugen aus der Situation Kapital, die NPD feierte Wahlerfolge. Heute hat sich die Situation zwar wieder größtenteils entspannt, in Gartz ging es allerdings von Anfang an vergleichsweise harmonisch zu: "Es gab keine Probleme mit den frühen Einwanderern. Auch, weil es nicht so hopplahopp ging, sondern langsam, Familie für Familie", ist Gotzmann überzeugt.
Aber auch steter Tropfen höhlt den Stein und so sind mittlerweile von 7012 Gartzern 1054 polnischer Herkunft. Eine Ausländerquote von 15 Prozent ist in Brandenburg, wo der Anteil im Durchschnitt bei 3,6 Prozent liegt, eine echte Ansage. Die positiven Auswirkungen sind laut Gotzmann überall zu spüren: "Wir sind erstmals seit den 90ern nicht in der Haushaltssicherung." Und noch viel wichtiger: Die kulturelle und gesellschaftliche Verödung des Landstrichs wurde gestoppt, es kommt wieder Leben in die Dörfer.
"Hier hat es keine Vorurteile gegeben"
Das liegt vor allem an den Familien, die ihren Weg über die Oder finden und sich in der Grenzregion niederlassen. Es sind Familien wie die von Michael Zaniewski: "Wir sind 2010 nach Tantow gezogen, das war ein Jahr nach der Geburt unserer ersten Tochter", sagt Zaniewski. Der polnische Polizist ging mit seiner Familie den Weg, den man von vielen jungen Familien in Deutschland kennt: "Wir kommen von der polnischen Ostsee und sind wegen der Arbeit nach Stettin gezogen. Irgendwann wollten wir ein eigenes Haus, aber in Polen war das zu teuer." Die Zaniewskis suchten nach günstigeren Optionen im Speckgürtel der 400.000-Einwohner-Stadt - und fanden die spottbillige Lösung in Tantow: Das Dorf ist eine der fünf Gemeinden im Einzugsbereich des Gartzer Amts und mittlerweile so etwas wie die inoffizielle polnische Hauptstadt der Region: Mehr als ein Drittel der Einwohner haben einen polnischen Pass, auch die Zaniewskis gehören dazu.
"Klar, der Anfang war schwierig: Ich konnte in der Zeit keine drei Worte auf Deutsch sagen", resümiert Zaniewski in fließendem Deutsch. "Ehrlich gesagt habe ich mich wie ein Idiot gefühlt, weil ich die Sprache nicht konnte." Aber immerhin: "Hier hat es keine Vorurteile gegeben. In anderen Grenzregionen ist das anders. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Polen, die nach Gartz ziehen, aus dem Mittelstand kommen: Das sind Leute, die in der Bank arbeiten oder Lehrer sind." Oder eben Polizist, so wie Zaniewski selbst.
Die anfängliche Fremdheit hatte allerdings nicht lange Bestand, schon kurz nach dem Einzug bekamen die Zaniewskis Besuch: "Der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr kam auf mich zu und hat mich gefragt, ob ich nicht bei ihnen mitmachen möchte." Zaniewski wollte - und fand so nicht nur schnell Anschluss in der neuen Heimat, sondern lernte auch nebenbei auf spielerische Art und Weise Deutsch.
"Unsere Tochter fühlt sich weder deutsch noch polnisch"
Nach den anfänglichen Schwierigkeiten war es den Zaniewskis dennoch eine Herzensangelegenheit, dass ihre Tochter so schnell wie möglich die neue Sprache lernen konnte, ohne ihre Wurzeln zu vergessen: "Für unsere große Tochter ist es selbstverständlich, zwei Sprachen - je nach Situation - zu sprechen. Sie fühlt sich dabei weder deutsch noch polnisch, sondern beides." Die Überwindung festgefahrener Vorurteile ist neben den wirtschaftlichen Vorzügen vielleicht eines der besten Argumente, die für das Gartzer Modell sprechen: Hier zeigt sich im Kleinen, wie die Bekämpfung des demografischen Wandels durch Zuwanderung im Großen funktionieren könnte: "Der Integrationswille ist das Entscheidende. Wenn der passt, und zwar von beiden Seiten aus, dann schaffen das auch andere Gegenden", ist Zaniewski überzeugt.
In Gartz ist ebenjener Wille im Überfluss vorhanden: Man muss schon lange nach einem Ur-Gartzer suchen, der mit den Polen nicht klarkommt - und selbst dann sind es nicht die typischen Stereotype, die ausgepackt werden, sondern eher Probleme auf persönlicher Basis. Die meisten Alteingesessenen freuen sich dagegen über den Schwung, den die Zugezogenen in ihre neue Heimat mitbringen. Und sei es nur wegen der Arbeit: "Unsere Erzieher haben ganz schnell festgestellt, dass die polnischen Kinder auch ihre Jobs sichern", sagt Amtsdirektor Gotzmann. Oder, noch einfacher gesagt: "Früher gab es nur einen Imbiss, zu dem man in der Mittagspause gehen konnte. Dann hat im selben Haus die polnische Konkurrenz aufgemacht. Für uns ist das gut, die überbieten sich ja gegenseitig, was die Angebote zum Mittagstisch angeht."
An diesem heißen Julinachmittag gibt es Schnitzel mit Bratkartoffeln und Jägersoße auf der deutschen Seite, Schnitzel mit Pommes auf der polnischen. "Veränderungen brauchen Zeit", hat Gotzmann wenige Minuten vorher ein vorläufiges Fazit getroffen. Was das für die Zukunft der Region bedeutet, steht noch nicht fest. Zumindest auf der kulinarischen Seite darf man sich aber wohl sicher sein, dass es bis 2028 auch Borschtsch auf die hiesigen Speisekarten geschafft hat. Und davon würden nun wirklich alle profitieren.
Quelle: n-tv.de
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