In den fünf Jahren vor dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise setzte Kanzlerin Angela Merkel keinen Fuß auf den afrikanischen Kontinent. 2016 änderte sich das. Als in Deutschland von Willkommenskultur kaum noch die Rede war, reiste Merkel plötzlich nach Mali, Niger und Äthiopien. 2017 flog sie nach Tunesien, Ägypten und an die Elfenbeinküste. 2018 gaben sich zunächst afrikanische Staatschefs in Berlin die Klinke in die Hand. Und heute macht sich Merkel nun schon wieder auf den Weg nach Afrika: Erst in den Senegal, am Donnerstag besucht sie Ghana und am Freitag Nigeria.
Der Versuch, die Migration nach Europa mithilfe afrikanischer Staaten zu kontrollieren, ist entscheidend für die hohe Reisefrequenz. Doch die Kanzlerin erkennt auch immer deutlicher das wirtschaftliche Potenzial einiger Staaten auf dem Kontinent. Das gilt vor allem für die Staaten, die Merkel jetzt besucht. Die Angst einer Wiederholung des Flüchtlingsjahres 2015 verbindet sich mit handfesten Wirtschaftsinteressen.
Die mit Abstand wichtigste Station ihrer Reise ist in dieser Hinsicht Nigeria. Der Staat am Golf von Guinea ist mit seinen 190 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Und Demografen erwarten auch in Zukunft ein rasantes Wachstum. Das Land ist ein gewaltiger potenzieller Absatzmarkt. Selbst Exportweltmeister Deutschland weist im Verhältnis zu Nigeria ein Handelsdefizit auf. 2017 exportierte die Bundesrepublik Güter im Wert von 900 Millionen Euro. Sie importierte dagegen Rohstoffe und Waren im Wert von 1,6 Milliarden Euro. Dazu gehörte vor allem Rohöl.
Nach einigen ökonomisch und politisch düsteren Jahren könnte sich Nigeria ganz langsam wieder von einer schweren Wirtschaftskrise erholen, die zum Teil dem niedrigen Ölpreis geschuldet war. Im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft immerhin wieder um 0,8 Prozent. Senegal und Ghana sind im Vergleich zu Nigeria klein, wenn es um Bevölkerung und Handelsvolumen geht. Die Wachstumsraten der Staaten sind aber umso größer. Im Senegal gab es zuletzt ein Plus von 7, in Ghana von mehr als 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In deutschen Regierungskreisen ist von "Volkswirtschaften mit hohem Transformationspotenzial" die Rede.
Mehr Kapitalismus statt Geschenke
Die Bundesregierung blickt mit einer gewissen Sorge darauf, dass Staaten wie China schon lange kräftig in Afrika investieren. Und das nicht nur, weil Peking lieber eigene Arbeitskräfte einschifft, statt die Menschen vor Ort zu beschäftigen oder die teils korrupten Regierungen afrikanischer Staaten zu fragwürdigen Rohstoffdeals nötigt. Berlin fürchtet auch, ein Geschäft zu verpassen, sollte sich Afrika eines Tages wirklich vom Elendskontinent zum Aufsteiger entwickeln. Spät, vielleicht zu spät, denkt Berlin um.
Über Jahre war die Afrikapolitik der meisten Staaten, auch Deutschlands, vor allem durch eine Almosen-Mentalität geprägt. Berechnungen der Weltbank zufolge sind zwischen 1960 und 2014 insgesamt 835 Milliarden US-Dollar nach Afrika geflossen. Viele Dollars für Entwicklungsprojekte verschwanden – im afrikanischen Staub oder in den Taschen korrupter Politiker. Die Bundesregierung pocht nun seit einigen Jahren verstärkt auf eine "Partnerschaft auf Augenhöhe". Gemeint sind mehr private Investitionen und weniger Entwicklungshilfe, Kapitalismus für Afrika statt Geschenke.
Doch es fällt Berlin nicht leicht, diesen Prozess anzustoßen. Unternehmer aus der Bundesrepublik fürchten noch, Geld anzulegen, weil die afrikanischen Volkswirtschaften ihnen zu fragil erscheinen. Das gilt so auch für Nigeria, Senegal und Ghana, obwohl sie in Afrika eher zu den Stabilitätsankern mit einer gewissen demokratischen Tradition gehören: "Alle drei Länder stehen vor sehr großen Herausforderungen bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung", heißt es aus Kreisen der Bundesregierung. Im Norden Nigerias etwa gelingt es der islamistischen Sekte Boko Haram noch immer, Gebiete zu erobern und die Bevölkerung zu terrorisieren. Im Süden stellen Milizen eine immerwährende Gefahr für das lukrative Geschäft mit Öl dar. Entführungen ausländischer Arbeitskräfte sind in etlichen Gegenden ein Geschäftsmodell.
Die Bundesregierung versucht, den Risiken in afrikanischen Staaten staatlichen Schutz für deutsche Investoren entgegenzusetzen, zum Beispiel, indem der Bund potenzielle Zahlungsausfälle ersetzt. Um die "Partnerschaft auf Augenhöhe" zu befördern, reist Merkel mit einer Delegation aus einem knappen Dutzend Unternehmern an. Sie kommen aus Branchen wie der Digitalisierung, der Wasserwirtschaft und der erneuerbaren Energien. Auf der Terminliste stehen Treffen mit afrikanischen Gründern und dem Präsidenten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas.
Keine Rücknahmeabkommen mit Senegal, Ghana und Nigeria
Auch, wenn es auf den ersten Blick so wirkt, als würden Wirtschaft und Fluchtursachenbekämpfung im Vordergrund der Reise stehen, wird Merkel auch explizit über Migrationskontrolle sprechen. Auch hier fällt Nigeria eine besondere Rolle zu. Der Staat ist derzeit das Hauptherkunftsland von Flüchtlingen auf der zentralen Mittelmeerroute. Unter den Asylantragstellern in Deutschland rangiert Nigeria auf Platz drei. Im ersten Halbjahr 2018 stellten nach Angaben des Innenministeriums 6141 Personen aus dem Land einen Antrag.
Zugleich ist die Anerkennungsquote mit 15,9 Prozent klein. Wieder los wird die Bundesrepublik viele Nigerianer trotzdem nicht. Derzeit befinden sich 8659 ausreisepflichtige Nigerianer in Deutschland. Geht es um Senegal und Ghana sind die Zahlen insgesamt deutlich niedriger, doch auch hier fällt es Deutschland schwer, tatsächlich abzuschieben. Derzeit leben 1303 ausreisepflichtige Senegalesen und 4229 Ghanaer in der Republik. In vielen Fällen scheitern die Abschiebungen dem Innenministerium zufolge, weil Ausreisepflichtige untertauchen. Probleme machen aber auch fehlende Reisepapiere. "Insbesondere bei Nigeria und Senegal ist der Prozess der Passersatzpapierbeschaffung noch zu kompliziert und langwierig", heißt es.
Mit keinem der Länder, die Merkel nun besucht, existieren Rückübernahmeabkommen, die Abschiebungen beschleunigen könnten. "Mit Nigeria gibt es seit längerem Verhandlungen seitens der EU-Kommission für ein EU-Rückübernahmeabkommen, dessen Abschluss jedoch noch nicht vorhergesagt werden kann", heißt es vom Innenministerium. "Unabhängig davon ist die Bundesregierung jedoch mit allen drei Ländern in intensiven Gesprächen zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Verfahren zur Rückübernahme."
Quelle: n-tv.de
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