Mercedes X-Klasse 350d - Stern fürs Grobe?

  03 Oktober 2018    Gelesen: 758
Mercedes X-Klasse 350d - Stern fürs Grobe?

Mercedes steht gemeinhin für Luxus. Das mag auch für die neue X-Klasse gelten. Zumal, wenn sie mit einem 3,0-Liter-V6 an den Start geht. Dennoch bleibt es ein Pick-Up und der verlangt wohl auch im Premium-Segment ein paar Kompromisse.

Manchmal dauert es auch für einen Auto-Redakteur geraume Zeit, bis er die Gelegenheit bekommt, einen Wagen unter die Füße zu nehmen. So zum Beispiel geschehen bei der neuen Mercedes X-Klasse. Eben jenem Fahrzeug, mit dem die Stuttgarter jetzt ins Segment der Pick-ups eingestiegen sind. Schützenhilfe holte man sich für das Projekt von Nissan. Schließlich haben die Japaner mit dem Navara seit Jahren einen der weltweit meistverkauften Light-Trucks mit Leiterrahmen auf dem Markt. Allerdings gibt es denn wie die bis dato vorgestellten Modelle von Mercedes nur mit Vierzylinder-Triebwerken. Einen V6 mit 258 PS, 550 Newtonmeter maximalem Drehmoment und 7-Gang-Wandlerautomatik haben die Japaner nicht. So etwas bietet nur noch VW im Amarok an.


Insofern ist der X 350d 4Matic schon etwas Besonderes in diesem Segment. Nicht nur, dass das 2,3-Tonnen-Monster in schlanken 7,5 Sekunden auf Tempo 100 beschleunigt werden kann, es nimmt auch locker 3,5 Tonnen an den Haken und lädt sich eine Tonne auf. Allein diese Werte weisen darauf hin, dass Mercedes mit dem X 350 d nicht nur ein Arbeitstier in die Spur schicken möchte, sondern auch einen Lifestyler und Sportler. Keine leichte Aufgabe, denn dem Wesen nach handelt es sich hier immer noch um einen kleinen Lkw. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Mercedes seine X-Klasse - egal mit welcher Motorisierung - nur als Double Cab, also mit zweiter Sitzreihe anbietet. Deshalb sollte man hier auch keinen zu großen Komfort erwarten. Zwar ist das Gestühl von Mercedes neu aufgepolstert, der Platz in der zweiten Reihe bleibt aber ebenso beschränkt wie der Sitzkomfort.

Der Kanten kann auch quer

Völlig ohne Tadel ist der wuchtige V6, der OM 642, der Diesel, der seine Qualitäten unter anderem bis 2014 im CLS 350 CDI oder bis 2015 im GLK 350 CDI unter Beweis stellte. Heute ist das Triebwerk für die X-Klasse überarbeitet und erfüllt dank Adblue die Emissionsklasse Euro-6b N1 GR. III/N2. Doch während der Diesel in den genannten Pkw und kleinerem SUV nicht nur durchzugsstark und sparsam war, genehmigt er sich in der X-Klasse schon einen ordentlichen Schluck. Über die gesamte Strecke der gefahrenen 270 Kilometer liefen gut 10 Liter Treibstoff durch die Schläuche. Das mag zum einen dem recht dynamischen Fahrstil geschuldet sein, liegt aber auch an den breiten Reifen, die wahlweise auf 17 oder 18 Zoll großen Alufelgen ruhen, dem schon erwähnten Gewicht und dem permanenten Allradantrieb.

Mithilfe eines Zentraldifferenzialsperre wird die Antriebskraft hier zwischen Vorder- und Hinterachse im Verhältnis 40 zu 60 verteilt. Diese hecklastige Auslegung sorgt nicht nur für gesteigerte Fahrdynamik, sondern auch für eine höhere Querbeschleunigung. Wer will, kann den Kanten also auch mal in der Kurve quer gehen lassen. Für Dynamikfreunde eignet sich in solchen Momenten dann auch der Fahrmodus Sport am besten. Aber wie Comfort oder Eco ändert er nur die Gaskennlinie und die Schaltstufen der auch nicht mehr ganz taufrischen 7-Gang-Automatik. Die Lenkung bleibt hier unberührt. Der Grund: Es handelt sich um eine hydraulische, nicht um eine elektromechanische. Insofern bleibt die Lenkung bei schnellen Kurvenfahrten für Mercedes ungewohnt indirekt mit wenig Rückmeldung. Wichtiger als das und die Höchstgeschwindigkeit von 205 km/h dürfte aber der Umstand sein, dass die kontinuierlich regelbare Längsdifferenzialsperre im Verteilergetriebe, die als Lamellenkupplung ausgelegt ist, eine optimale Traktion im Gelände garantiert.

Im Gelände wie eine G-Klasse?

Insgesamt können drei Allradmodi gewählt werden: 4Matic ist permanent und wurde schon erwähnt. Hinzu kommt die Einstellung 4H, mit der die Traktion im Gelände unter Zuschaltung des Mitteldifferenzialsperre verbessert wird und 4L für schweres Gelände, bei dem


auch das Hinterraddifferenzial sperrt. Für die Zu- und Abschaltung bedarf es aber eines Tricks: Es muss jeweils im Übergang der Schalthebel für einen Moment in die Stellung "Neutral" gebracht werden. Diese Kombination aus geregeltem Längsdifferential, Hinterachs-Sperrdifferential und Untersetzung sorgt dafür, dass die X-Klasse sich ähnlich souverän in schwerem Geläuf bewegt wie eine G-Klasse. Ja, die hat noch ein Vorderachsdifferenzialsperre und dürfte aufgrund des geringeren Radstandes und der kürzeren Überhänge noch den einen oder anderen Felsen besser überlaufen, aber prinzipiell ist mit der X-Klasse Ähnliches möglich. Prinzipiell ist der für die X-Klasse verwendete Antriebsstrang im Übrigen auch mit dem im alten G 350 d identisch.

Dank langer Federwege und einer Bodenfreiheit von 22 Zentimetern ist jedenfalls genug Platz, um auch mal über größere Brocken zu fahren. Allerdings empfiehlt es sich, hier den optionalen Unterfahrschutz geordert zu haben, denn die Differenzialsperren sind nicht wie bei der neuen G-Klasse oberhalb des Leiterrahmens verbaut. Bei steilen Abfahrten hilft eine Frontkamera, das Gelände vor der Motorhaube im Blick zu behalten. Mercedes verspricht für die X-Klasse die Überwindung eines Steigungswinkels von 45 Grad, Wasserdurchfahrten von bis zu 60 Zentimetern und Schräglagenfahrten von bis zu 49,8 Grad. Alles glaubhaft, aber Gegebenheiten, die sich im normalen Alltagsleben einer X-Klasse nur höchst selten auftun dürften. Aber gut zu wissen, dass man mit seinem Light Truck in den entscheidenden Momenten bei Unterholzfahrten keine Probleme haben wird. Genau an dieser Stelle setzt aber auch der Spagat der Ingenieure beim Fahrwerk ein. Das muss nämlich so konzipiert sein, dass die Offroad-Tauglichkeit gewahrt ist, gleichsam aber auch ein ausreichender Abrollkomfort auf der Straße gewährleistet wird. Und tatsächlich kann der X-Kanten auch mit Leiterrahmen ganz geschmeidig abrollen.

Abstriche für den groben Chick

Allerdings darf hier niemand erwarten, dass das Teil Querfugen überfährt wie ein GLS mit Luftfederung. Hier schlägt es je nach Straßenlage schon mal kräftig durch. So gesehen verlangt die X-Klasse in einigen Punkten im Vergleich zu anderen Mercedes-Modellen von den Passagieren schon einige Kompromisse. So zum Beispiel auch im Innenraum. Mit der Ausstattungslinie Progressive hat man die Basis eines X 350 d für gut 47.000 Euro erworben. Im Innenraum muss der Fahrer jetzt aber mit ungewöhnlich viel Plastik an der Armatur und an den Seitenverkleidungen leben. Zwar versuchen die Stuttgarter etwas Stil ins Innenleben zu bringen, aber dabei bleibt die Armauflage in den Türen ohne Polster und die über der Mittelkonsole lässt sich nicht in Längsrichtung verschieben.

Wer also wirklich etwas Premiumgefühl in seine X-Klasse bringen möchte, entscheidet sich für die höchste Ausstattungslinie Power. Hier gibt es ein beledertes Dashboard mit Ziernähten, gepolsterte Armauflagen, mit Stoff überzogene Holme der A- und B-Säule und auf Wunsch echte Lederpolster. Außen findet der Betrachter statt des schwarzen Kunststoffs in den Frontstoßfängern verchromte Zierelemente. Das sieht im Zusammenspiel mit den Trittbrettern an der Seite und verchromten Überrollbügeln echt schick aus und hat Stil. So gerüstet kann man mit der X-Klasse auch gerne mal auf dem Opernparkplatz vorfahren und tut sich - wie schon erwähnt - im Gelände nicht schwer. Allerdings laufen für den groben Chick dann mal locker 53.000 Euro auf.

Nicht alle technischen Errungenschaften am Start

Dafür gibt es aber auch nicht die neuesten technischen Errungenschaften, die Mercedes seinen aktuellsten Modellen hat angedeihen lassen. Das Volant mit seinen Bedienelementen stammt aus der V-Klasse, das Infotainmentsystem, das über den einst viel gelobten "Handschmeichler" oder ein Scrollrad bedient werden kann, ist eine Nachwehe der letzten Generation und auch die Rundinstrumente in Tubenoptik mit mittiger Matrix findet man so nur noch in der V-Klasse. Immerhin offeriert Mercedes auch für die X-Klasse "me connect". Darin enthalten ist nicht nur der Zugriff über eine entsprechende App auf das Fahrzeug, sondern auch Echtzeitnavigation und ein Notrufsystem.

Bei den adaptiven Assistenten muss sich der X-Klassen-Kunde ebenfalls bescheiden. Zwar verfügt das Topmodell über einen aktiven Spurhalteassistenten, aber einen Stauassistenten oder adaptiven Abstandsradar gibt es nicht. Dafür offeriert Mercedes eine ESP-Anhängerstabilisierung, LED-Scheinwerfer und eine 360-Grad-Kamera. In Summe ist die X-Klasse wohl mit Abstand der robusteste Mercedes, aber auch der mit den wenigsten Ausstattungsmerkmalen. Andererseits sucht er seine Konkurrenz schließlich nicht im eigenen Lager, sondern zwischen VW Amarok und Toyota Hilux. Und genau da könnte der Stern dann wieder strahlen. Denn was Daimler mit dem X 350 d bietet, wird man andernorts vergeblich suchen. Und wenn es nur ein elektrisch öffnendes Fenster in der Heckscheibe ist.

Quelle: n-tv.de


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