Wenn eine Aktie kurz vor der Dividendenausschüttung steht, wird sie mit dem Kürzel „cum“ versehen. Nach der Ausschüttung erhält sie den Zusatz „ex“. Das ist der Hintergrund für die Bezeichnung des mutmaßlich größten Betrugsfalles mit Steuergeldern in der bundesdeutschen Geschichte als „Cum-Ex-Geschäft“. Sputnik berichtete 2017 umfangreich über den Skandal.
Auf eine Dividende wird in Deutschland grundsätzlich Kapitalertragssteuer erhoben. Sie wird sofort von der Dividende abgezogen und an das Finanzamt abgeführt. Die Aktionäre erhalten eine Bescheinigung. Doch die ist nur für deutsche Aktionäre bares Geld wert. Mit dem Dokument können sie sich die Steuer zurückholen. Ausländischen Aktionären steht dieses Recht nicht zu – und das ist die Basis für eine spezielle Version der Cum-Ex-Geschäfte. Doch zunächst zum Grundprinzip und zu den Grundlagen des Leergeschäftes an deutschen Börsen.
Wie funktioniert ein „Leer-Geschäft“?
Cum-Ex-Geschäfte sind klassische Leergeschäfte. Ein Leergeschäft basiert auf dem kurzzeitigen Verkauf eines Wertpapiers, von dem man annimmt, es werde im Kurs sinken, sodass man es billiger zurückkaufen kann. Allerdings werden diese Wertpapiere in aller Regel nur geliehen. Es wird also ein Verkauf von Eigentum suggeriert, der gar nicht geschieht. An allen deutschen Wertpapierbörsen gibt es dafür sogenannte Leihstellen. Fällt der Kurs des Wertpapiers innerhalb der Laufzeit dieser Leihe, funktioniert das Geschäft mit Gewinn.
Ein willkürliches, stark vereinfachtes Rechenbeispiel: Ein Spekulant leiht sich eine Aktie des Unternehmens A, Wert: 100 Euro. Der Spekulant ist der Ansicht, die Aktie ist überbewertet und eigentlich deutlich weniger wert. Er leiht sich in der Leihstelle der Börse diese Aktie für einen Monat. Dafür muss er eine Leihgebühr entrichten, zum Beispiel 5 Euro. Er verkauft diese Aktie und erhält die besagten 100 Euro. Nun spekuliert er darauf, dass innerhalb des Monats der Kurs der Aktie unter 100 Euro fällt, zum Beispiel auf 80 Euro. Dann muss er beim Rückkauf – denn er muss die geliehene Aktie nach einem Monat wieder der Leihstelle aushändigen – nur diese 80 Euro plus die 5 Euro Leihgebühr zahlen. Er hat also einen Gewinn von 15 Euro gemacht. Bleibt der Kurs bei 100 Euro oder steigt er, macht der Spekulant Verlust. Das kann besonders dann ärgerlich oder gefährlich werden, wenn er das Leergeschäft auf Kredit finanziert hat, was der Regelfall ist. Und kurzfristige Kredite sind besonders teuer.
Ungedeckte Leerkäufe nehmen zu
Weil de facto die Aktie nie den Besitzer gewechselt hat, sondern alles virtuell abgewickelt wird, spricht man von einem Leergeschäft. Natürlich sind die Spekulanten daran interessiert, dass ihre Wetten auf sinkende Kurse auch eintreffen. Deshalb haben sie mehr oder weniger legale Methoden entwickelt, Kurse zu beeinflussen. Neben Klassikern wie dem gezielten Streuen von Gerüchten, um andere Spekulanten nervös zu machen und durch übereilte Verkäufe Kurse ins Trudeln zu bringen, haben in den letzten Jahren sogenannte ungedeckte Leerverkäufe (naked short-sellings) immer mehr zugenommen.
Eigentlich müssen Leerverkäufe „gedeckt“ sein. Aber es gibt an jedem Handelstag einer Börse immer nur eine bestimmte Menge an Aktien, die für Leerverkäufe zur Verfügung stehen. Regelmäßig übersteigen die Leihwünsche die verfügbare Zahl an Aktien, was die Leihgebühren steigen lässt. Das wiederum erhöht den Druck der Spekulanten, dass der erhoffte Kursabfall auch wirklich eintritt. In den letzten Jahren sind deshalb die ungedeckten Leerverkäufe zu einer regelrechten Pest geworden. Dies wird von vielen Analysten auch immer wieder angeprangert, wenn es um die Ursachenforschung für die Finanzkrise 2008 geht.
Aktienkurse mit Leergeschäften manipuliert
Natürlich trompeten alle Investmentbanken und Hedgefonds bis heute lauthals und empört in die Welt, sie würden übel verleumdet. Aber erstens zeigen die absurden Volumina der Leergeschäfte überdeutlich, was vor sich geht. Und zweitens kann aufgrund eines Glücksfalls nachgewiesen werden, dass die professionellen Zocker in Nadelstreifen dreist lügen, wenn sie behaupten, sie würden keine ungesetzlichen Geschäfte betreiben.
Durch schlampige Anwälte wurde die Klageschrift eines Prozesses bekannt, der 2007 gegen verschiedene Investmentbanken geführt wurde, beispielsweise Goldman Sachs und Morgan Stanley. Darin werden fein säuberlich Emails aufgelistet, in denen sich die Banker absprechen, wie sie die Kurse durch ungedeckte Leerverkäufe manipulieren können, und dass sie auf geschriebene und ungeschriebene Gesetze und Regeln pfeifen, Hauptsache sie können Profit machen.
Cum-Ex: Doppelt abkassieren
Während klassische Leergeschäfte vom Grundsatz her legal sind, handelt es sich beim Cum-Ex-Geschäft eigentlich um vorsätzlichen Betrug. Denn das Ziel ist, sich die Kapitalertragssteuer, die auf die ausgezahlte Dividende pro Aktie erhoben wird, doppelt erstatten zu lassen. Weil die Erfassung und Abwicklung der Vorgänge in den Finanzämtern sehr verzögert abläuft und außerdem durch Mangel an Personal, vor allem von qualifiziertem und erfahrenem Personal, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, mit der Betrugsmasche durchzukommen, haben diese Praktiken massiv zugenommen. Es gibt aber auch raffinierte Konstruktionen, bei denen die Steuererstattung sogar noch häufiger floss, obwohl nur einmal an den Fiskus bezahlt wurde.
Cum-Ex-Praktiken seit Langem bekannt
Mindestens seit 1992 ist bekannt, dass es diese Möglichkeit der Steuervermeidung gibt. Und mindestens seit 2002 weiß die Bundesregierung ganz offiziell davon – aufgrund eines Schreibens des Bankenverbandes. Doch die bisherigen Bundesregierungen unternahmen mehr oder weniger nichts. Sie informierten auch nicht die anderen europäischen Regierungen, als klar wurde, dass die Mafia aus Banken, Anwaltskanzleien und Steuerberatern das Geschäft auf andere Staaten ausweitete, nachdem das Bundesfinanzministerium 2012 in Deutschland diesen Hahn dann doch zudrehte.
Davon ließen sich die Zocker nicht abschrecken. Sie erfanden die sogenannten Cum-Cum-Konstruktionen, bei denen ausländische Aktionäre ihre Aktien kurzfristig an deutsche Banken verleihen. Die lassen sich die Kapitalertragssteuer erstatten, geben die Aktien an die eigentlichen Eigentümer zurück und teilen sich die Steuererstattung. Für den ausländischen Aktionär deutscher Aktien ist das ein einträgliches Geschäft, weil ihm eigentlich die Steuererstattung nicht zusteht. Und die Banken machen dabei auch ihren Schnitt – je nach Provisionsgestaltung für den Leerverkauf.
Milliardenschäden für die Steuerzahler
Der Dumme ist wieder einmal der ehrliche Steuerzahler, für den die meisten der legalen Steuervermeidungstricks sowieso nicht ersonnen wurden. Ein internationales Rechercheteam hat jetzt den Schaden, den die Betrügereien mit den Cum-Ex-Geschäften für die deutsche Steuerkasse verursachten, auf mindestens 55 Milliarden Euro beziffert. Das ist eine kolossale Steigerung gegenüber den ersten Rechercheergebnissen, als der Skandal zum ersten Mal bekannt wurde.
2016 wurde unter Mühen ein Untersuchungsausschuss im Bundestag eingesetzt. CDU, CSU und SPD mussten trotz der Ungeheuerlichkeit des Skandals mehr oder weniger zum Jagen getragen werden. Dass die Banken und Spezialkanzleien trotz der Untersuchungen des deutschen Parlamentes und der daraufhin im vergangenen Jahr eingeleiteten ersten offiziellen Strafanzeigen und Rückzahlungsaufforderungen unverdrossen das Geschäft weitertrieben und internationalisierten, ist ein ungeheuerlicher Affront. Es zeigt, wie arrogant, unverschämt und rücksichtslos gierig diese Elitenvertreter inzwischen geworden sind.
Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses
Richard Pitterle saß bis 2017 für die Partei Die Linke im Deutschen Bundestag und musste zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen von den Grünen diesen Untersuchungsausschuss regelrecht erzwingen. CDU, CSU und SPD verweigerten sich seiner Einrichtung, indem sie sich der Stimme enthielten. In diesem Untersuchungsausschuss hat Pitterle Erfahrungen machen müssen, die er auch im Sputnik-Interview aufführt. Er spricht von einem Versagen der Bundesregierung und vor allem der Bankenaufsicht,
„… die sich dann im Untersuchungsausschuss darauf herausgeredet hat, dass sie nur festzustellen hat, ob eine Bank nicht droht, in die Insolvenz zu gehen. Aber meines Erachtens steht auch in dem Bankenaufsichtsgesetz, dass sie auch für die Zuverlässigkeit des Führungspersonals zu sorgen hat. Und wenn sich eine Bank an diesen Geschäften, zu Lasten des Fiskus, beteiligt, dann liegt meines Erachtens die Zuverlässigkeit des Führungspersonals nicht vor, und die Bankenaufsicht hätte sie aus dem Verkehr ziehen müssen.“
Die Bundesregierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte waren eventuell von Sachwaltern der Profiteure dieser Geschäfte unterwandert. Es kann nur vermutet werden, dass deshalb diese unfassbare bleierne Ruhe herrschte, die der Cum-Ex-Mafia ermöglichte, fast drei Jahrzehnte die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ungestört und bar jeden Unrechtsbewusstseins wie eine Melkkuh zu schröpfen. Im Untersuchungsausschuss konnte Richard Pitterle aber einen Fakt definitiv feststellen lassen:
„Es gab einen ehemaligen Richter, der im Bundesfinanzministerium saß, der nach seinem Ausscheiden erneut den Auftrag bekam, für das Bundesfinanzministerium zu arbeiten. Und wie wir im Untersuchungsausschuss gehört haben, wurde er zum gleichen Zeitpunkt von vier verschiedenen Bankenverbänden bezahlt und hat auch Informationen über die ganze Gesetzgebung brühwarm an den Bankenverband geliefert. Sie wussten genau, was das Bundesfinanzministerium als nächstes machen will.“
Verdächtige Zeitabläufe bei Gesetzverfahren
Ein Indiz, dass massiv im Sinne der Cum-Ex-Mafia gehandelt wurde, ist ein zeitlicher Ablauf, der schwere Verdachtsmomente entstehen lässt. Demnach hatte der Bankenverband im Dezember 2002 das Bundesfinanzministerium über die Cum-Ex-Geschäfte ins Bild gesetzt und Vorschläge für eine „Lösung“ unterbreitet. Der zuständige Beamte legte das Schreiben zunächst „zur Seite“, wie Pitterle erzählt, was er später im Untersuchungsausschuss damit rechtfertigte, dass er „gar nicht verstanden hat, worum es da geht in diesem Brief, was ihm da geschildert worden ist“.
Der Bankenverband schrieb den Brief allerdings nicht in Sorge um die Gemeinschaft der Steuerzahler, sondern aus Angst, in Haftung genommen zu werden, weil die Banken unbekümmert seit Jahren die Bescheinigungen ausstellten, obwohl sie Anhaltspunkte dafür hatten, dass massiver Betrug vorlag – in Milliardenhöhe.
Erst ein Jahr später, im Dezember 2003, bemühte sich der Beamte des Bundesfinanzministeriums in die in Berlin befindliche Zentrale des Bankenverbandes und ließ sich erklären, was da vor sich ging und welche „Lösung“ der Verband vorschlage. Dabei wurde dem Beamten eine Power-Point-Präsentation gezeigt, in der kühn behauptet wurde, der Spekulant erwerbe mit dem Leihakt ein wirtschaftlich verwertbares Eigentum.
Basis dieser im Bankenverband ausgeheckten Verteidigungsstrategie war ein Urteil des Bundesfinanzhofes (BFH) in München aus dem Jahr 1999. Deutschlands höchstes Steuergericht hatte darin allerdings in einem Fall geurteilt, bei dem es sich um echte Verkäufe und Rückkäufe rund um den Dividendenstichtag handelte, und nicht um Leergeschäfte. Der BFH erklärte, dass trotz der ungewöhnlichen und verdächtigen Transaktionen wirtschaftlich verwertbares Eigentum entstanden sei. Die Erstattung der Körperschaftssteuer sei somit in dem behandelten Fall rechtens gewesen.
Bankenverband schafft Legalisierung illegaler Praktiken
Die Juristen des Bankenverbandes machten daraus einfach ein Anrecht der Steuererstattung auch für Leergeschäfte. Und genau diese Rechtsauffassung transportierte der Beamte des Bundesfinanzministeriums in die Koordinierungsgruppe von Bund und Ländern.
Im Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen roch man den Braten allerdings. Eine „toughe, junge Beamtin“ habe an das Bundesfinanzministerium zurückgeschrieben, erzählt Pitterle, dass sie einschätze, „die Banken wollen durch dieses Vorgehen ihre illegale Praxis legalisieren lassen, und man möge stattdessen Steuerfahnder in die Banken schicken“.
Doch natürlich tat die Bundesregierung nichts dergleichen. Auch die Bundesländer folgten dieser Empfehlung nicht. Das Ergebnis: Im Jahressteuergesetz 2007 wurde beschlossen, dass Dividende und Erstattungsanspruch rechtlich gleichgestellt werden. Der Effekt: die Cum-Ex-Geschäfte explodierten regelrecht. In den Banken wurden eigene Abteilungen geschaffen, die sich mit nichts anderem als dem „Dividendenstripping“ befassten, wie Pitterle erzählt.
Bestrafung und Schadenersatz unwahrscheinlich
Bis 2012 dauerte es, bis die Bundesregierung diesem Treiben zumindest in Deutschland ein Ende setzte, indem die Bank die Erstattungsbescheinigung seither erst ausstellen darf, wenn sie die Kapitalertragssteuer auch abgeführt hat. Nach wie vor aber gehen die Cum-Cum-Geschäfte unter Beteiligung ausländischer Banken munter weiter, wie das internationale Rechercheteam jetzt offenbarte. Auch Richard Pitterle bestätigt Sputnik, dass dieses Schlupfloch bis heute nicht geschlossen wurde.
Besonders bitter ist seiner Ansicht nach, dass die strafrechtliche Ahndung dieses dreisten Diebstahls der angeblichen Leistungsträger dieser Republik wahrscheinlich höchst unbefriedigend verlaufen wird. Auch von der Riesensumme, die die Betrüger erbeutet haben, dürfte nur ein Bruchteil wieder in die Steuerkassen zurückfließen. Denn natürlich weiß die Cum-Ex-Mafia, dass viele der Geschäfte bereits verjährt sind. Doch die Verbrecher, denen und deren ergaunerten Vermögen der Staat noch habhaft werden kann, sind lohnenswerte Ziele.
Allein im vergangenen Jahr zahlten Banken rund eine halbe Milliarde Euro zurück. Weitere Millionenbeträge könnten folgen, wenn die Verfahren gegen Banken, Rechtsanwälte und Steuerberater erfolgreich abgeschlossen werden können. Die Dreistigkeit und kriminelle Energie der Cum-Ex-Mafia ist allerdings grenzenlos – im wahrsten Wortsinn.
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