Der Westen leide an einem „Systemfehler“, erklärte Helmut Böttiger im Sputnik-Interview. Der Soziologe und Pädagoge beschreibt in seinem aktuellen Buch „Der Westen. Ein Abgesang“ die Vorreiterrolle der britischen und US-amerikanischen Eliten zur globalen Durchsetzung des „westlichen Herrschaftssystems“. Doch das Buch zeigt auch, dass sich dieses Herrschaftsmodell aktuell aus mehreren Gründen in einer Krise befindet.
„Die Krise des Westens kündigt sich gesellschaftlich gesehen schon durch die Atomisierung der Gesellschaft an. Mit zunehmenden psychischen Krankheitssymptomen.“ Er nannte als Beispiel das neu geschaffene „Einsamkeits-Ministerium“ in Großbritannien. „Wirtschaftlich gesehen kündigt sich das Ende der Dollar-Hegemonie an. Aus dieser finanzierten die USA weitgehend ihren Wohlstand im Inneren. Länder, die auf ihre Unabhängigkeit bedacht sind, versuchen sich in ihrem Außenhandel weitgehend vom Dollar zu lösen.“ Hierzu kann beispielsweise das geplante Zahlungssystem von Deutschland, Frankreich und Großbritannien genannt werden, das legalen Handel mit dem Iran ermöglichen und so US-Sanktionen umgehen soll.
„Der Westen wurde durch Raub im Kolonialismus reich“
„Die auf dem Weltmarkt nicht mehr benötigten Dollarbestände kehren vermehrt, als Forderungen, in die USA zurück“, bemerkte der Buchautor. „Systemisch kann man sagen: Es gibt einen Systemwiderspruch in der westlichen Marktgesellschaft, der darauf hinausläuft, dass man in dieser Gesellschaft nur wirtschaftlich tätig wird, wenn ein Geldgewinn lockt.“
Früher stammten die Geldzuwächse, Gewinne und Profite des Westens „aus kolonialer und imperialer Wertübertragung. Also Raub aus dem Ausland, wenn man so will. Diese Möglichkeit hat die Globalisierung des Marktes, der dadurch zu einer Art Binnenmarkt wird, beendet. Schließlich wird das alles durch Fiat Money, also reine Kreditgeldschöpfung, verschleiert und führt konsequenterweise aber auch zur Überschuldung großer Teile der Wirtschaft. Diese beiden Tendenzen – Umverteilung und Aufschuldung – ließen sich eine Zeit lang durch Produktivitätssteigerungen verschleiern.“ Doch die Produktivität westlicher Produktionsstätten komme angesichts der Vermögenskonzentration langsam zu ihrem Ende, eine Steigerung sei da nicht mehr möglich.
Was zur Spaltung der westlichen Eliten führt
Dass die Produktionssteigerung westlicher Konzerne, Unternehmen und Volkswirtschaften am Ende der Fahnenstange angekommen sei, das wüssten auch die Entscheidungsträger im Westen selbst, so Böttiger. „Dass dieses Ende naht, führt zur Spaltung der westlichen Elite in der Frage, wie sie sich und ihre Macht in der Krise behaupten kann. Das zeigt sich beispielsweise am Wahlerfolg Trumps oder an Bewegungen wie den Gelbwesten in Frankreich.“
Der Autor bezog sich auf aktuelle Sputnik-Interviews. Kürzlich erklärte der linke US-Ökonom Michael Hudson aus New York, wie die USA ihre Währung als globale „Finanz-Waffe“ einsetzen zur Erreichung geopolitischer Ziele. Wirtschafts-Experte Werner Rügemer aus Köln erläuterte im Gespräch die Vorgehensweise der umstrittenen US-Investmentgruppe „Blackrock“, die über trickreiche Schritte auf vielfachen Feldern im Weltfinanzmarkt Geld macht.
All das spiele eine Rolle, so Böttiger. „Nach 1971, als der Dollar vom Gold abgekoppelt worden ist, wurde die Geldspekulation zur Gewinnmöglichkeit. Das hat dazu geführt, dass Geldgewinne nicht mehr investiert worden sind, um sie zu realisieren. Sondern: Jetzt realisierte man Gewinne, indem man sie in Geld anlegt. Und zwar auf den Finanzmärkten. Dort konnte man schnell spekulieren und etwas verdienen. In der realen Wirtschaft ging das nicht so schnell.“
„Armut, Elend und Hunger als Folge“
Die Folge: „An der Basis im Volk herrscht Armut, in der Dritten Welt Elend und Hunger. Was beim Stand der heutigen Technologie eigentlich unnötig wäre. Wir könnten mit dem technologischen Know-How heute erreichen, dass niemand materielle Not leiden bräuchte.“ Aber es komme eben auch zu Protestbewegungen wie die französischen Gelbwesten. Es entstehe Unmut, der sich teilweise in Wahlen populistischer Parteien in Europa niederschlage.
Folgen westlicher Weltpolitik seien „Kriege im Nahen Osten und in Afrika. Die Zerstörung der Lebensgrundlage vieler Völker. Die von Geheimdiensten angezettelten Bürgerkriege in Nahost und jetzt in Venezuela, um Regime Changes durchzuführen.“
„Asien-Weltbank“, SCO und AIIB als Konkurrenten des Westens
Die 2002 gegründete „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SCO) mit ihren taktgebenden Mitgliedern Russland und China, die daran angegliederte asiatische Entwicklungsbank „New Development Bank“ mit Sitz in Shanghai sowie die „Asiatische Infrastrukturinvestmentbank“ (AIIB) seien sichtbare Zeichen einer möglichen Welt-Neuordnung. Symbole einer Verlagerung der politisch-ökonomischen Macht hin nach Asien und in den Pazifik-Raum. Diese neuen Institutionen würden westlich dominierten Institutionen wie dem Weltwährungsfonds IWF und der Weltbank den Rang ablaufen.
„Entsprechend nervös reagiert der Westen. Die SCO relativiert die hegemoniale Macht des Westens, also das sogenannte Dollar-Imperium. Sie lädt Länder ein, sich davon unabhängig zu machen und zeigt, dass es geht. Dem gleichen Zweck dient auch die Belt-Road-Initiative Chinas, die Neue Seidenstraße. Die den Ausbau internationaler Handels- und Infrastrukturnetze betreibt, zwischen der Volksrepublik China auf der einen Seite und 60 weiteren Ländern in Afrika, Asien und Europa auf der anderen Seite. Das ist ein riesiges Entwicklungsprojekt.“ Das Projekt solle – unabhängig von US-Dollar und IWF – über einen „Seidenstraßen-Fonds“ finanziert werden. Dieser sei in der AIIB integriert. „Dem gleichen Zweck dient die New Development Bank der BRICS-Staaten. Eine auf chinesischer Initiative neugegründete Entwicklungsbank. Das Gesamtvolumen der Road-Belt-Initiative wird auf 1,1 Billionen Dollar geschätzt.“ Westliche Führungsstaaten wie die USA seien entsprechend unter Zugzwang.
Helmut Böttiger: „Der Westen Ein Abgesang, Entstehung und Zukunft der westlichen Marktgesellschaft“, Michael Imhof Verlag, 384 Seiten, 1. Auflage 2018. Das Buch ist im Handel erhältlich.
Die Idee zu seinem neuen Buch kam ihm aufgrund des Materials, das er für seinen wöchentlichen Blog zur Entwicklung der Weltpolitik an konkreten Geschehnissen seit knapp 20 Jahren sammelt. Online abrufbar unter: www.spatzseite.com
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