Für Zweifler hatte Liam Fox keine Geduld. "All die Feiglinge, die sagen, wir schaffen das nicht, erzählen absoluten Mist", tönte Großbritanniens Minister für internationalen Handel. Bis zum 29. März, dem Tag des Brexits, werde man die 40 Freihandelsverträge zwischen der EU und anderen Ländern kopiert haben. "Eine Sekunde nach Mitternacht" würden sie für Großbritannien in Kraft treten, rief Fox jubelnden Anhängern seiner Tory-Partei zu.
Das war Anfang Oktober 2017. Inzwischen ist längst klar, dass Fox sein Versprechen nicht ansatzweise wird einhalten können. Erst vergangene Woche musste er Wirtschaftsvertretern in einem vertraulichen Treffen beibringen lassen, dass sie mit dem Brexit wohl auch den Zugang zu den meisten internationalen EU-Handelsabkommen verlieren werden.
Wie düster die Lage aber genau aussieht, konnte London bisher geheim halten. Doch ein Schriftwechsel zwischen der britischen Regierung und der EU-Kommission, der dem SPIEGEL vorliegt, zeigt jetzt das ganze Ausmaß von Fox' Scheitern. Aus einer darin enthaltenen Liste geht hervor, dass London bis Ende Januar kein einziges der mehr als 40 EU-Handelsabkommen mit Drittstaaten fortschreiben konnte.
Auch von mehreren Hundert weiteren internationalen Abkommen der EU - etwa über Luftverkehr, Fischerei oder juristische Zusammenarbeit - hat die Regierung von Premierministerin Theresa May nur einen Bruchteil reproduziert.
Die Liste ist Teil eines Schreibens von Tim Barrow, Londons Botschafter in Brüssel, an Martin Selmayr. Der mächtige Generalsekretär der EU-Kommission hatte Barrow Mitte Dezember schriftlich an die Pflicht der Briten erinnert, die Kommission über Verhandlungen mit Drittstaaten auf dem Laufenden zu halten, sofern EU-Kompetenzen berührt sind. Selmayr verlangte "zeitnah" Informationen über alle entsprechenden Abkommen, die Großbritannien derzeit verhandelt oder bis zum Brexit zu verhandeln gedenkt.
Am 25. Januar flatterte Barrows Antwort ins Berlaymont, das Hauptquartier der Kommission - und ihr Inhalt dürfte die Nervosität der britischen Wirtschaft erneut steigern. Sie fürchtet ohnehin schon einen ungeregelten Brexit, durch den sie über Nacht den Zugang zum Binnenmarkt und zur Zollunion der EU verlöre. Jetzt löst sich auch noch die Hoffnung auf, dass wenigstens der Handel mit den mehr als 60 Drittstaaten von dem Desaster verschont bleibt, in die 11 bis 15 Prozent der britischen Exporte fließen.
Den Zugang zu den Verträgen der EU mit Drittstaaten verlieren die Briten durch den Brexit in jedem Fall - egal, ob noch ein Austrittsvertrag mit Brüssel gelingt oder nicht. Es müssen also Nachfolgeabkommen her. Kein Problem, behaupteten die Brexiteers in der Tory-Partei: Länder wie Kanada oder Japan müssten einfach nur ihre Verträge mit der EU für Großbritannien kopieren, eine leichte Übung.
Doch dieser Plan ist gründlich schiefgegangen. Auf der Liste von Botschafter Barrow findet sich außer den vier kürzlich abgeschlossenen Verträgen nur noch ein weiteres Handelsabkommen, das "in Kürze" besiegelt werden soll - mit der Karibik-Staatengruppe Cariforum. Insgesamt also nichts, was die wirtschaftlichen Folgen eines ungeregelten Brexits nennenswert abfedern könnte. Dabei sind die Nachfolgeabkommen als Notmaßnahme für genau diesen "No Deal"-Brexit gedacht, wie auch Barrow in seinem Schreiben an Selmayr betont.
Nicht viel besser sieht es bei den Hunderten anderer internationaler Verträge der EU aus: Lediglich 21 konnte Großbritannien bis Ende Januar übernehmen. Darunter sind Luftfahrtabkommen mit den USA, Kanada und sieben kleineren Staaten, eine Einigung mit Washington über Versicherungsfirmen sowie Verträge mit einer Handvoll Länder über die Zusammenarbeit auf dem zivilen Nuklearsektor. Mit Australien konnten sich die Briten immerhin über den Weinhandel, mit Neuseeland über den Handel mit Tieren einigen.
Nachfolger für die Großkaliber unter den EU-Handelsabkommen aber - etwa jene mit Kanada, Japan, Südkorea, Mexiko oder der Türkei - sucht man auf der Liste vergebens. Es ist das endgültige Ende der unter Brexiteers beliebten Fantasie, mächtige Volkswirtschaften warteten geradezu begierig darauf, nach dem Brexit ihre Verträge mit der EU auf Großbritannien zu übertragen.
Stattdessen scheint einzutreten, wovor zahlreiche Experten seit Langem warnen: Länder wie Kanada oder Japan sehen wenig Anlass, dem kleinen Großbritannien dieselben Konditionen zu gewähren wie der viel größeren EU. Hinzu kommt, dass London unter Zeitdruck steht und händeringend neue Abkommen braucht. Für die meist langwierigen und komplexen Gespräche über Freihandelsabkommen ist das eine denkbar schlechte Position.
Eine erste Begegnung mit dieser Realität mussten die Briten im Januar erleben, als eine japanische Delegation in London auftauchte. Ein einfaches Copy-and-Paste des existierenden Abkommens, so viel stellten die Vertreter Tokios klar, werde es nicht geben. Stattdessen werde man in aller Ruhe über Zölle, Regeln und Quoten neu verhandeln. Tokio, so hieß es, sei zuversichtlich, bessere Bedingungen für sich herausschlagen zu können als mit der EU.
Was passieren würde, sollte Großbritannien für ausländische Investoren in Zukunft nicht mehr profitabel sein, hat Japans Botschafter in London ohnehin schon vor einem Jahr klargemacht: "Kein privates Unternehmen könnte dann noch seine Geschäfte weiterführen", sagte Koji Tsuruoka ausgerechnet vor der Tür des Amtssitzes von Premierministerin May. "So einfach ist das."
spiegel
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