Massenflucht des Todesblocks 20 aus KZ Mauthausen: Das schworen Gefangene EXCLUSIV

  23 Februar 2019    Gelesen: 1805
  Massenflucht des Todesblocks 20 aus KZ Mauthausen: Das schworen Gefangene EXCLUSIV

Im Februar 1945 flohen 419 sowjetische Offiziere des Todesblocks 20 aus dem KZ Mauthausen. Sie hatten einander geschworen, die Wahrheit über die Verbrechen der Faschisten an die Heimat zu übermitteln. Nun liegt Sputnik der Brief eines Überlebenden an Nikita Chruschtschow vor. Er erinnert sich an den Eid und mahnt zum Gedenken an die Großtat.

Es liest sich wie ein Drehbuch eines genialen, furchtbaren Filmes, doch für die Häftlinge des KZ Mauthausen war das bittere, verhängnisvolle Realität. Nach offiziellen Angaben wurden hier von 1938 bis 1945 122.766 Menschen getötet, davon 32.180 Sowjetbürger. Besonders fürchterlich waren die Schicksale derjenigen im Block Nr.20 oder der Baracke K, von „Kugel“ abgeleitet. 

Hierher wurden vor allem sowjetische Häftlinge gebracht, zum Großteil Offiziere, alle als unverbesserlich abgestempelt. Die akribischen SS-Männer registrierten sie bei der Aufnahme nicht einmal. Wozu auch? Verbrauchsmaterialien, die wandelnden Toten sollen „russische Schweine“ für sie gewesen sein. In der Baracke K hielten die Menschen höchstens zwei oder drei Wochen lang durch. Im Januar 1945 wurde „frisches Blut“ hierher geschleppt, zum Großteil sowjetische Piloten. 

Wenigstens sieben von ihnen konnten sich vor der „Mühlviertler Hasenjagd“, so hieß die Todesjagd auf die geflohenen Häftlinge, retten, nachdem in der Nacht des 3. Februar mehr als 500 Gefangene einen Fluchtversuch unternommen hatten. Nur 419 von ihnen sollen tatsächlich aus dem KZ ausgebrochen sein, die anderen wurden schon beim Ausbruchsversuch erschossen oder von Hunden zerfetzt. 

Nun liegt Sputnik ein Brief eines der Überlebenden, Iwan Bitjukow, an Nikita Chruschtschow vor. Der Brief wurde von einem Sputnik-Leser im russischen Staatsarchiv gefunden. Chruschtschow hatte seinen Sohn, der ebenfalls Pilot war, im Krieg verloren. 

In dem Brief vom 10. April 1960 bittet Bitjukow den Staatschef der Sowjetunion um nichts weiteres als um das Gedenken an seine gefallenen Kameraden und die Übermittlung von deren Geschichte an die Sowjetbürger. Am 2. Februar haben die Häftlinge der 20. Todesbaracke gerade vor der Flucht einander geschworen:

„Lässt jeder von uns die Vollstreckung der Todesstrafe zu, werden die Faschisten ihre in der Geschichte beispiellosen Schreckenstaten, die Ermordung von unbewaffneten Offizieren verheimlichen. Wenn aber einer von uns am Leben bleibt, muss er seiner Heimat und den Familien die Wahrheit über den Todesblock 20 erzählen, dessen Name mit faschistischer Barbarei, Foltern, Blut, Qualen, Tod und wirklichem menschlichen Mut verbunden ist. Kameraden! Kommunisten! Lasst uns nie unsere Großtat vergessen!“

„Ich schreibe an Sie und weine, aber nicht um mein Schicksal, sondern um diejenigen zu Tode Gequälten, in Gaskammern Erstickten, bei der Massenflucht Erschossen, von Schäferhunden in Stücke Gerissenen, an Foltern, Hunger und Erschöpfung Gestorbenen nach der Flucht aus dem faschistischen KZ, während der Wanderung durch das faschistischem Land“, hat der Überlebende geschrieben.

„Ich trauere um die Toten und die Lebenden, von deren Körpern lebendiges russisches Blut geflossen war, um diejenigen, die die faschistische Festung gestürmt hatten und bis zum Ende ihrer Tage treue Söhne unseres geliebten Heimat geblieben waren.

Ich beweine jene Vergessenen, die den Tod eroberten, obwohl für uns der Sieg viel schwieriger war als für die russischen Grenadiere der Sturm Ishmaels [Hiermit sind die Belagerung und Sturm der türkischen Festung im Jahr 1790 durch die russischen Truppen unter dem Befehl von Generaloberst Alexander Suworow gemeint — Anm. d. Red.]. Die russischen Grenadiere waren freilich freie Männer, sie hatten Waffen und Kanonen und sogar brennenden Teer. Wir dagegen hatten nur unseren Glauben an den Sieg und die Rache für die Leiden der Menschheit unter der braunen Seuche“. 

Der während des Krieges als Kapitän der Luftstreitkräfte dienende Iwan Bitjukow lässt aus einer der wenigen Geschichten über die Flucht, „Legende über den Block 20“ von Sergej Smirnow, zitieren, hatte 1943 während der Kämpfe um Kuban ein deutsches Flugzeug gerammt und in dem vom Feind besetzten Gebiet landen müssen. Er versuchte an die östliche Frontlinie zu gelangen, wurde jedoch verwundet und gefangen genommen. Auch er durchlief die Lagerkette, floh erfolgreich schon einmal, kämpfte Schulter an Schulter mit tschechoslowakischen Partisanen und fiel dort erneut in die Hände der Nazis. Zur Vollstreckung der Todesstrafe wurde er diesmal in den Isolierblock 20 von Mauthausen gebracht…

Und sie fanden ihre Waffen. Oder zumindest etwas, was diese ersetzen konnte. Die Aufständigen beschlossen, sich mit Pflastersteinen von einem Gehweg zu bewaffnen. Ein Regen von diesen Steinen sollte auf die Wachtürme mit Maschinengewehren des Feindes fallen. Die wichtigste Waffe waren zwei Feuerlöscher gewesen, die in den Schlafräumen der Baracke hingen. Einige Gefangene sollten zum Fuß des Wachturmes rennen und einen Schaumstrahl auf die Gesichter der SS-Männer richten, damit die Angriffsgruppe den Turm besteigen und das Maschinengewehr erbeuten konnte.

„Wir wünshten uns, dass viele von ihnen sicher in ihre Heimat zurückkehren und über den Todesblock erzählen könnten. Aber es gab nur wenig Hoffnung auf Rettung. Radiosendungen von Wien und Linz riefen die Einheimischen zwei Tage lang stündlich dazu auf, sich auf die Suche nach den geflüchteten „bolschewistischen Todfeinden“ zu machen. Es war sehr schwer zu entkommen. Der Lagerkommandant gab bekannt, dass alle Flüchtlinge getötet worden seien. Wir glaubten dies und glaubten es nicht“, zitiert Bitjukow den Brief eines seiner Bekannten, Nikolai Parschin, aus Block 11. Er erlebte die Befreiung des KZ am 5. Mai 1945.

Iwan Bitjukow war es gelungen, zusammen mit seinem Kameraden Wiktor Ukrainzew aus dem Lager zu entkommen. Sie tasteten sich mehrere Stunden durch die Dunkelheit, immer weiter vom Lager weg, und kamen schließlich am Rande der österreichischen Kleinstadt Holzleiten an, in der Nähe des Anwesens des Bürgermeisters des Ortes, eines fanatischen Nazis. Sie schlichen sich in die Scheune seines Herrenhauses und stolperten über schlafende Menschen, die keinen Alarm schlugen. Diese Leute waren Landarbeiter des Bürgermeisters, die Sowjetbürger Wassili Logowatowski und Leonid Schaschero sowie der Pole Metik, die aus ihren Heimatorten verschleppt worden waren. Sie begriffen sofort, dass es sich um aus Mauthausen geflüchtete Häftlinge handelte, und nahmen die beiden auf. „Der Bürgermeister war den ganzen Tag mit der Suche nach den Geflüchteten beschäftigt, und es kam ihm nie in den Sinn, dass der Dachboden seines Hauses zum Zufluchtsort für Aufständische geworden war“, erinnert sich Bitjukow in seinem Brief.

Bald sollten sie sich voneinander trennen, als sie in einen deutschen Hinterhalt gerieten. Ukrainzew wurde erwischt. Da er die Sprache beherrschte, gab er sich als den Polen Jan Gruschnizkij aus, überstand alle Schläge und Folterungen während der Verhöre und landete schließlich wieder in Mauthausen, diesmal im polnischen Block. Hier lebte er bis zur Befreiung des KZ am 5. Mai 1945, und bekannte erst danach seinen Gefährten, dass er einer der geflohenen Flüchtlinge des Todesblocks 20 ist. Iwan Bitjukow ging lange in Richtung Osten und stieß bereits in der Tschechoslowakei auf die vorrückenden sowjetischen Truppen.

Es sei auch darum notwendig, „unsere Geschichte öffentlich zu machen“, weil 15 Jahre nach der Niederlage des Hitlerreiches ehemalige Militaristen wie der Henker Oberländer die jungen deutschen Männern und Frauen mit ihren menschenverachtenden Ansichten täuschen würden, schrieb Bitjukow weiter, womit er wohl die Beschäftigung der überzeugten NS-Akteure in der Nachkriegszeit gemeint hat. Theodor Oberländer z.B. war unter Konrad Adenauer als Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte tätig. 

Zwei Jahre nach dem Schreiben des Briefes kamen im Herbst 1962 ehemalige Häftlinge des Todesblocks  20 nach Moskau. Jetzt hatten sie die Gelegenheit, den an ihre Kameraden gegebenen Schwur zu erfüllen. Sie traten im Moskauer Fernsehen vor Millionen Menschen. Empfangen wurden sie vom damaligen stellvertretenden Verteidigungsminister der UdSSR, Marschall der Sowjetunion Wassili Tschuikow. Im sowjetischen Komitee der Kriegsveteranen fand danach ein berührendes Treffen der Helden des legendären Aufstandes mit ehemaligen Häftlingen des Lagers Mauthausen statt. 

Doch wurde keiner von den Überlebenden des 20. Block der Titel eines Helden der Sowjetunion zuerkannt. Keiner der Teilnehmer des Aufstandes hat Medaillen oder Orden erhalten. Es wurden keine Filme über sie gedreht und keine Bücher geschrieben. Zu Stalins Zeiten galt es allgemein als Schande, in einem KZ gewesen zu sein.

sputniknews


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