n-tv.de: Der Europäische Rat hat sich auf Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin geeinigt. Wie groß ist der Unmut darüber im Europäischen Parlament?
Jens Geier: Es gibt schon viele zornige Abgeordnete. Sehr viele, durchaus in unterschiedlichen Fraktionen, haben darauf gesetzt, dass das Spitzenkandidatenprinzip ernst genommen wird und dass der Rat uns auch nur einen Spitzenkandidaten vorschlägt. Das hatten die christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien im Wahlkampf auch so versprochen. Jetzt wird jemand als Kommissionspräsidentin vorgeschlagen, die nicht nur mit den Spitzenkandidaten nichts zu tun hat, sondern auch in der Europapolitik keine aktuelle Rolle spielt und deshalb außerhalb von Deutschland kaum bekannt ist. Das ist ein Vorgang, den viele im Europäischen Parlament als Missachtung unserer Institution verstehen.
Allerdings konnten sich die Fraktionen im Europäischen Parlament nicht auf einen der Spitzenkandidaten einigen. Müssen sie sich da nicht an die eigene Nase fassen?
Das Europaparlament arbeitet seit zwei Tagen. Es hat sich soeben konstituiert, es hat am Donnerstag zum ersten Mal inhaltlich diskutiert. Vor diesem Hintergrund finde ich den Vorwurf, wir hätten keine Mehrheit zusammengebracht, schwierig. Wer hätte das tun sollen? Fraktionsvorsitzende, die zum Teil noch gar keine Gelegenheit hatten, in ihren Fraktionen ausführlich zu diskutieren? Es hatten Gespräche begonnen, welche politischen Anforderungen es an die neue EU-Kommission geben soll. Das hätte die Grundlage für eine Personalentscheidung sein sollen.
Auch Ihr Parteifreund Martin Schulz nannte es einen Fehler, dass die sozialistische Fraktion sofort nach der Europawahl eine Festlegung für den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber ausschloss.
Die Christdemokraten wollten, dass wir vor allen weiteren Arbeitsprozessen erstmal unterschreiben, dass ihre Fraktion das Vorschlagsrecht für einen Kommissionspräsidenten hat. So geht das nicht. Ich gehe als Sozialdemokrat nicht in eine Verhandlung und bekomme am Anfang gesagt, wie diese endet.
Ob Brexit oder die angeschlagenen transatlantischen Beziehungen: Ist es angesichts der drängenden Probleme der EU nicht verständlich, dass der Rat schnell auf eine Einigung auf einen Kommissionspräsidenten drängt?
Die neue Europäische Kommission nimmt ihre Arbeit am 1. November auf, das ist noch lang hin. Der Rat hat den Zeitdruck absichtsvoll erzeugt, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Das hat jetzt zu viel Protest geführt. Auch daher sehe die notwendige Mehrheit von 376 Stimmen für Frau von der Leyen noch nicht. Wenn sie durchfällt, dann wird der Europäische Rat mit diesem Ergebnis leben und einen neuen Vorschlag finden müssen.
Das heißt: Sie werden auf alle Fälle gegen sie stimmen?
Wir 16 deutschen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind uns da sehr sicher. Und wir sind da nicht allein.
Und die sozialdemokratische Fraktion insgesamt im Europäischen Parlament?
Die sozialdemokratische Fraktion legt ihre Position am kommenden Dienstag fest.
Aber war es nicht einfach pragmatisch, dass sich Kanzlerin Angela Merkel hinter von der Leyen stellte, nachdem sie zuvor vergeblich für die Spitzenkandidaten Manfred Weber und Frans Timmermans geworben hatte?
Wollen wir denn Pragmatismus über demokratische Verfahren stellen? Ich muss mich als Parlamentarier doch nicht auf die vermeintlichen Zwänge der Staats- und Regierungschefs einlassen. Wenn diese in knapper Not nach Marathonverhandlungen endlich eine Einigung finden, muss ich die noch lange nicht gutheißen. Das ist nicht mein Job. Ich sitze in einer ganz anderen Institution. Das Europäische Parlament hat den Zeitdruck nicht erzeugt. Er war auch überflüssig. Warum war es nicht möglich, zu warten, bis das Parlament beschlussfähig ist und wir eine inhaltliche Anforderung an einen neuen Kommissionspräsidenten gestellt hätten? Wir hätten dann in Ruhe über politische Mehrheiten, die diesen Präsidenten tragen, verhandeln können. Und nach einer Einigung hätte sich der Rat damit beschäftigen können. So wäre das fair gewesen. Doch der Rat wollte vollendete Tatsachen schaffen.
Läuft nun alles auf einen Machtkampf der Institutionen hinaus?
Ja. Es ist in jeder Demokratie der Welt so, dass das Parlament die Regierung wählt. Wieso soll das in der EU anders sein? Worüber wir uns hier unterhalten, ist doch die Frage: Wer hat in der EU die Hosen an? Die europäischen Bürgerinnen und Bürger und die von ihnen gewählten Abgeordneten, die wie in jeder Demokratie der Welt die Exekutive - also die Regierung - bestimmen? Oder die Mitglieder des Rats, die wie noch im 20. Jahrhundert der Meinung sind, sie suchen sich eine Kommissionspräsidentin aus, die ihnen genehm ist, und dann erwarten, dass die Abgeordneten diesen Vorschlag einfach so akzeptieren? Wenn wir das institutionell auskämpfen müssen, tun wir das.
Auch wenn dies zu einer Schwächung der EU führt?
Wenn Sie das als eine Schwächung sehen. Ich sehe darin eine Stärkung des Europäischen Parlaments mit einer klareren Verbindlichkeit der europäischen Regierungen gegenüber dem Parlament.
Allerdings hat der Rat ja das Recht, einen Kommissionspräsidenten vorzuschlagen.
Vor dem Hintergrund der Wahlen zum Europäischen Parlament. Die spiegeln sich aber in dem Vorschlag von der Leyen nur unzureichend wider. Und wir haben natürlich auch das Recht, den Vorschlag abzulehnen. Schließlich ist die Abkehr vom Spitzenkandidatenprozess schon ein Rückschritt für die Demokratie in der EU.
Aber abgesehen vom Verfahren: Ist denn von der Leyen nicht eine erfahrene Politikerin, die auch eine gute Kommissionspräsidentin abgeben würde?
Frau von der Leyen ist mir in letzter Zeit nicht durch weitreichende europapolitische Vorschläge aufgefallen oder durch präzise Vorstellungen über die Lösung aktueller politischer Probleme in Europa. Wenn sie zu uns in die Fraktion kommt, sind das alles offene Fragen, die wir mit ihr besprechen müssen. Und der Zustand des Bundesverteidigungsministeriums und der Bundeswehr stärkt auch nicht gerade mein Vertrauen, dass sie in der Lage ist, eine komplexe Administration wie die EU-Kommission zu führen. Ich erkenne daher nicht, dass sie politisch und administrativ für den Job geeignet ist. Wir reden über eine Person, die so gerade eben der gemeinsame politische Nenner der Staats- und Regierungschefs ist. Und dann wird vom Europäischen Parlament erwartet, dass wir dazu Beifall klatschen? Dazu bin ich nicht bereit.
Mit Jens Geier sprach Gudula Hörr
Quelle: n-tv.de
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