Das Rätsel lässt sich lösen. Fürs deutsche Fernsehen attraktiv ist weder die Entwicklung Hosokawas, des erfolgreichsten japanischen Komponisten in der westlichen Welt, noch die Tradition, in der der 60-Jährige hier steht: Von Korngolds Tote Stadt bis zu Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern war die Hamburgische Staatsoper immer offen fürs Neue, Uraufführungen sind fest in der Seele des Hauses verankert. Fürs Fernsehen freilich ist einzig das Etikett "Tsunami-Oper" attraktiv. Wer es dem Stillen Meer aufgepappt hat, ist kaum mehr zu eruieren, der Name Fukushima jedenfalls – die Oper nimmt die Katastrophe von 2011 zum Anlass – fällt im Libretto kein einziges Mal. Aber es wirkt, das Etikett. Und ist doch falsch.
Hosokawas vierte Oper behandelt eine posttraumatische Situation, die ebenso gut Khao Lak, Tschernobyl, Hiroshima, Dresden oder Pompeji heißen könnte. Das ist ihre Stärke und ihre Schwäche. Stärke: weil Hosokawa jeglichen Katastrophentourismus auf der Bühne verweigert – ihm und seinem Textdichter (und Regisseur) Oriza Hirata geht es nicht um Tsunamis und havarierte Atomkraftwerke, sondern um eine Expedition ins Innere. Und Schwäche: weil man sich fragt, warum die Geschichte überhaupt, laut Programmheft, in einem Dorf "an der Grenze zum Sperrgebiet rund um Fukushima 1, unweit des Kernkraftwerks" angesiedelt sein muss, wenn sie so wenig Spezifisches an Konfliktpotenzial und Dramatik zu bieten hat, wenn sie so allgemein bleibt. Stilles Meer schielt zu sehr nach tieferer Bedeutung, als dass man diese der Oper und ihren fünf Szenen wirklich abnähme.
Eine Deutsche, Claudia (Susanne Elmark), trauert um ihren japanischen Mann und ihren Sohn Max, die bei der Katastrophe ertrunken sind. Während Stephan, Max’ Vater und Claudias Ex (Bejun Mehta), sie zur Rückkehr nach Deutschland bewegen will, glaubt ihre Schwägerin Haruko (Mihoko Fujimura), dass Claudia durch ein Stück Nō-Theater (in dem eine Mutter ihr totes Kind sucht und findet) die Realität akzeptieren lernen könnte. Beides aber funktioniert nicht, selbst der unvermittelt angerufene Buddha vermag nichts auszurichten, und so bleibt am Ende alles, wie es ist. Die von den Dorfbewohnern während einer anfänglichen Trauerzeremonie ausgesetzten Laternen leuchten nun am Meeresgrund, und alle Musik verwispert und verflüstert sich.
Sicher, Stilles Meer ist ein Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper. Doch muss die Protagonistin deshalb eine (blonde) Deutsche sein, verfügt das Publikum über so wenig Abstraktionsvermögen und Empathie? Es mag um Wirklichkeiten gehen, innere, äußere, um fernöstliche Rituale und die "westliche" Unfähigkeit zu trauern, um gnadenlose Evakuierungsbefehle und von Raubfischen zerfressene Leichen, um Glaube, Liebe, Hoffnung, Trost. All dies bedarf keiner Nationalität und keiner Anbiederung. Namen wie Claudia, Stephan und Max aber banalisieren das Geschehen, ersticken jedes Schillern, zumindest für deutsche Ohren. Denn auch "Claudia" oder "Stephan" wollen gesungen sein, und da können sich der Komponist und die Sänger mühen, wie sie wollen: Es klingt immer albern. Clau-di-a, Ste-phan, Ma-hax. Ob es Japanern mit Haruko oder Hiroto (einem Mann aus dem Dorf) ähnlich ergeht? Ob es Zeitgenossen mit Carmen, Don Giovanni oder Aida jemals ähnlich erging?
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