Eigentlich fühlt sich Sandra gut auf die Geburt ihres ersten Kindes vorbereitet. Die 34-Jährige durchlebt eine komplikationslose Schwangerschaft, ist informiert, offen und bereit, auszuprobieren, was ihrem Körper gut tut. Doch um das, was ihr dann in einem bayerischen Kreißsaal widerfährt, zu verarbeiten, braucht die Lehrerin Jahre. Denn die Geburt ihrer Tochter entwickelt sich zum Martyrium. Sandra wird gegen ihren Willen an Beinschalen angegurtet. Sie wird von der Hebamme ausgelacht, als sie Nachfragen stellt. Ein Arzt wirft sich ohne Vorwarnung mit voller Wucht auf ihren Bauch, um das Kind aus ihr herauszudrücken. Anschließend wird sie ohne zusätzliche Schmerzmittel wieder zugenäht. Und die ganze Zeit ist da diese Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein, die Ohnmacht. "Ich fühlte mich wie vergewaltigt und hatte das Gefühl, mein geliebtes Kind würde aus mir herausgeprügelt", schreibt sie später darüber. Während ihre Tochter sich Jahr für Jahr auf ihren Geburtstag freut, ist es für Sandra nur eins: Der Jahrestag ihrer Geburtsvergewaltigung.
Mutter zu werden, so wird es Frauen seit Generationen eingetrichtert, ist eine durch und durch erfüllende Erfahrung. Wenn das Neugeborene erstmal in den Armen der Mutter liegt, ist aller Schmerz vergessen. "Hauptsache das Kind ist gesund", bekommt diese dann zu hören. Was aber, wenn die Geburt so traumatisch ist, dass nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden kann? Wenn die Erfahrungen im Kreissaal die Beziehung zum Neugeborenen oder zum Partner belasten oder zerstören? Müssen Frauen wie Sandra mit ihren Erfahrungen dann klaglos zurechtkommen – weil es zum Mutterwerden eben dazugehört?
Für die Soziologin Christina Mundlos lautet die klare Antwort: Nein. Was Frauen wie Sandra erlebt haben, definiert sie als Gewalt. "Ich würde von Gewalt sprechen, wenn die Patientin beispielsweise einem medizinischen Eingriff nicht zugestimmt hat oder über diesen nicht aufgeklärt wurde", sagt sie n-tv.de. Und von diesen Eingriffen gibt es keine ganze Reihe: Wenn das Kind etwa ohne Zustimmung mit dem sogenannten Kristeller-Griff – vor dem die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt und der in manchen Ländern verboten ist - von Außen Druck auf die Gebärmutter ausgeübt wird, teils indem sich Hebamme oder Arzt mit ihrem Körpergewicht auf den Bauch der Frau stützen. Wenn die Plazenta herausgerissen wird, die Gebärende ohne Grund festgeschnallt wird, brutal vaginal untersucht, unnötig aufgeschnitten und anschließend zu eng zugenäht wird. Aber auch wenn psychischer Druck auf die werdende Mutter ausgeübt wird, sie zu Maßnahmen gezwungen wird, die sie eigentlich nicht möchte, wenn sie alleingelassen und beleidigt wird.
Umfrage: Mehr als die Hälfte der Gebärenden erlebte Gewalt
Als Mundlos vor elf Jahren bei der Geburt ihres ersten Sohnes Opfer von Gewalt und Übergriffigkeit wird, fängt sie an nachzuforschen. Die Soziologin merkt schnell, dass sie mit ihrer Erfahrung nicht alleine ist. Sie merkt aber auch: Das Thema ist ein echtes Tabu, damals weder in Medien noch wissenschaftlicher Literatur präsent. Quantitative Studien gibt es bis heute nicht. Eine Umfrage des "Stern" unter 10.000 Müttern lässt jedoch erahnen, wie groß das Thema ist: Ganze 91 Prozent der befragten Frauen geben darin an, nicht oder nicht ausreichend über Eingriffe aufgeklärt worden zu sein, die während der Geburt durchgeführt wurden. 56 Prozent sagen: Ich habe Gewalt erlebt.
Auch wenn die Zahlen erschrecken – sie passen in eine Zeit, in der über Hebammenmangel und Kreißsaalschließungen debattiert wird. "Wenn enormer Arbeitsdruck und Personalmangel herrschen, erhöht sich die Gefahr von Machtmissbrauch", sagt Mundlos. Wenn eine Hebamme fünf Gebärende gleichzeitig betreuen muss, bleibt nunmal wenig Zeit für sensible Gespräche und Aufklärung. "Miese Arbeitsbedingungen rechtfertigen aber nicht, dass Gewalt angewendet wird."
Ein immer wiederkehrender Bestandteil in den Schilderungen von Frauen: Der Dammschnitt, der helfen soll, den Kopf des Kindes leichter aus dem Mutterleib zu pressen - der aber teils trotz ausdrücklich gegenteiligen Wunsches der Schwangeren durchgeführt wird. Bei etwa 20 Prozent liegt die Dammschnittrate in Kliniken – während sie in der außerklinischen Geburtshilfe lediglich bei 4,6 Prozent liegt. "Dies irritiert insbesondere deshalb, weil es inzwischen medizinischer Konsens ist, dass Dammschnitte lediglich in einem Bruchteil der Fälle – wenn überhaupt – einen medizinischen Nutzen für Mutter oder Kind haben", schreibt Mundlos in ihrem Buch "Gewalt unter der Geburt". Eine mögliche Erklärung: "Jeder Tropf, jeder Schnitt, jede Naht wird gesondert vergütet." So werden beispielsweise Kaiserschnitte deutlich besser von den Krankenkassen bezahlt als normale Geburten. Dazu kommt, dass das OP-Team einen Kaiserschnitt in der Regel in 30 bis 60 Minuten über die Bühne gebracht hat. Bei einer normalen Geburt dagegen müssen die Hebammen im Kreißsaal im Zweifelsfall für mehr als 20 Arbeitsstunden bezahlt werden.
Dammschnitt, nur weil geübt werden muss
Die Arbeitsbedingungen im Kreissaal machen auch den Hebammen zu schaffen. "Muss man Schnitte hinnehmen als Frau, in die empfindlichste Körperstelle, nur weil jemand das Schneiden üben muss?", fragt etwa Hebammenschülerin Solveig aus Hamburg. In Mundlos' Buch berichtet sie vom Schock, der manche Geburt bei ihr ausgelöst hat. Wie sie hinterher weinend in einem der Wäscheräume des Krankenhauses saß. "Hebammen haben sich entschieden, Frauen in einer der prägendsten Phasen ihres Lebens fachkompetent und mit Empathie zur Seite zu stehen, das ist meistens die Motivation für den Beruf", sagt Ulrike Geppert-Orthofer, Präsidentin des Deutschen Hebammen-Verbandes n-tv.de. "Wenn sie dann im Kreißsaal arbeiten und merken, dass sie das gar nicht leisten können, wenden sie sich auch wieder davon ab."
Geppert-Orthofer setzt sich dafür ein, bei der Geburt wieder die Bedürfnisse von Müttern und Kindern in den Mittelpunkt zu stellen. In England oder Skandinavien etwa, sagt sie, haben Schwangerschaft und Geburt einen viel höheren gesellschaftlichen Stellenwert. Eine 1-zu-1-Betreuung durch eine Hebamme während der aktiven Phase der Geburt sei in England Standard, während in Deutschland mehrere Gebärende gleichzeitig betreut werden. "Was Frauen bei der Geburt leisten und was mit ihrem Körper passiert, ist der Wahnsinn. Wir müssen alle Sorge dafür tragen, dass Frauen gestärkt aus dieser Situation herausgehen und sie nicht als traumatisches Erlebnis wahrnehmen", so Geppert-Orthofer.
Rose vor dem Kreißsaal erinnert an Übergriff
Dabei ist Gewalt während der Geburt kein neues Thema, sagt Mundlos. Die Berichte der Betroffenen erweckten jedoch den Eindruck, dass das Problem zunimmt. Das mag auch damit zu tun haben, dass Mundlos' Buch die öffentliche Debatte zu dem Thema losgetreten hat. Dass Frauen dafür sensibilisiert werden, dass das, was ihnen da angetan wurde, Gewalt ist. Dass sie durch die MeToo-Debatte generell gelernt haben, bei Unrecht ihr Schweigen zu brechen.
Ihr Schweigen brechen Frauen weltweit am 25. November auf symbolische Art und Weise. Am sogenannten Roses Revolution Day legen sie eine rosafarbene Rose vor die Kreissaaltür, hinter der ihnen Gewalt angetan wurde. Unter dem gleichnamigen Hashtag schildern Frauen auf Twitter ihre Erfahrungen – aber auch, dass sie nicht den Mut aufbringen, an den Ort der Gewalttat zurückzukehren.
Geppert-Orthofer findet es prinzipiell gut, dass sich betroffene Frauen zu Wort melden. "Dass sie das auf diesem Weg tun müssen, ist aber ein Armutszeugnis für unser Gesundheitswesen", sagt sie. "Ich kann mir gar nicht vorstellen, was durch den Kopf einer Kollegin geht, wenn sie nach einem anstrengenden Nachtdienst, bei dem sie sicherlich ihr Bestes gegeben hat, eine Rose vor der Kreißsaaltür liegen sieht. Das muss schrecklich sein."
"Es kann jede treffen"
Nur: Wie lässt es sich verhindern, dass Frauen überhaupt eine Erfahrung machen müssen, die sie zu einem solchen Schritt veranlasst? "Ich werde unglaublich oft nach Präventionstipps gefragt", sagt Mundlos. "Aber die Garantie, unter bestimmten Voraussetzungen keine Gewalt zu erleben, gibt es leider nicht. Es kann jede treffen." Sich vorzubereiten, seine Rechte zu kennen oder eine Dula mit zur Entbindung zu bringen, könne das Risiko aber minimieren.
Die Schuld bei der Frau zu suchen, das erinnere sowieso an Victim Blaming. Mundlos fordert stattdessen, die Finanzierung der Kliniken aufzustocken und umzuverteilen: "Es dürfen keine finanziellen Anreize für Eingriffe mehr geboten werden." Und in einem sind sich Mundlos und Geppert-Orthofer einig: Langfristig braucht es eine 1-zu-1-Betreuung. Und Beratungsstellen, an die sich traumatisierte Frauen wenden können.
Lehrerin Sandra hat irgendwann gelernt, die schmerzhafte Geburt ihrer Tochter als Teil ihres Lebens zu sehen. Die Beziehung zu ihrem Mann, schwer belastet durch dessen Passivität während der traumatischen Stunden im Kreißsaal, hat sich dank einer Eheberatung wieder stabilisiert. Ihr zweites Kind hat Sandra zu Hause auf die Welt gebracht – alleine.
Quelle: n-tv.de
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