An einem sonnigen Vormittag Ende Juni sitzt Shamsuddin Noori auf der Couch im Wohnzimmer seiner Wohnung in München. Seine drei kleinen Söhne sind im Kindergarten, seine Frau ist beim Deutschkurs - kein Laut, nur das leise Brummen des Ventilators. Noori, 33, wiegt ein Smartphone in seiner Hand.
Ich sitze dabei, habe ihn gebeten, seine Schwester Rhoshan anzurufen, in der afghanischen Heimat in Kundus. Er macht das eigentlich nicht mehr, erträgt es nicht. Zögerlich scrollt er durch seine Kontakte, tippt auf den Namen, die Verbindung wird aufgebaut. Roshans Gesicht taucht auf dem Bildschirm auf. Sie sieht abgekämpft aus.
"Wir haben jede Nacht Angst, dass sie kommen und uns töten", sagt sie. "Und der Grund dafür ist, dass mein Bruder mit den Deutschen gearbeitet hat." Noori auf der Couch fängt an zu schluchzen. Tränen der Verzweiflung rollen seine Wangen runter.
Seit die Deutschen 2001 mit den Amerikanern in den Krieg gegen die afghanische Taliban gezogen waren, arbeiteten mindestens 1500 Lokalkräfte für sie. Es sind wahrscheinlich wesentlich mehr, aber die deutschen Behörden haben nicht sauber Buch geführt. Die Lokalkräfte arbeiteten als Fahrer, Sicherheitsleute, Köche und manche, wie Noori, als Übersetzer.
Die Taliban und andere bewaffnete Gruppen jagen diese Menschen, werfen ihnen vor, mit dem Feind zu kollaborieren, oder wollen einfach ein Lösegeld erpressen.
Die Bundesregierung hat ein Schutzvisaprogramm aufgelegt, doch die Kriterien sind geheim und die Verfahren dauern lang. Als "beschämend" und "unwürdig" empfindet diesen Umgang zum Beispiel der ehemalige Wehrbeauftragte der Bundesregierung Reinhard Robbe.
Wegen dieses beschämenden Umgangs zahlen Hunderte, die Deutschland beim Einsatz in Afghanistan geholfen haben, einen hohen Preis, so wie zum Beispiel Noori.
2013 lernte ich ihn in Kundus kennen, da strahlte er noch hoffnungsfroh. Es machte ihm Spaß, Verantwortung für sein Land zu übernehmen, und er vertraute den Deutschen, auch weil er der Typ ist, der an das Gute im Menschen glaubt. Heute wünscht er sich manchmal, dass er tot wäre. Was zwischen der Hoffnung und den Suizidgedanken liegt, erzählt er in den zwei Tagen vor dem Telefonat.
2001, als Deutschland die Beteiligung an der amerikanischen Anti-Terror-Operation "Enduring Freedom" und der Nato-Mission ISAF beschloss, lebte Noori in Kundus, studierte Englisch, bewarb sich beim Auswärtigen Amt als Übersetzer und bekam den Job. Die Deutschen waren für ihn der Grund, dass die Taliban weg waren. "An meinem ersten Tag habe ich mich ein bisschen gefühlt wie ein Held", sagt er. Die Unterlagen von damals bewahrt er säuberlich in einer Klarsichtfolie auf.
Für die Deutschen wurde er Augen und Ohren. Er übersetzte für sie, arrangierte Treffen mit afghanischen Politikern, fuhr ihre gepanzerten Geländewagen, wurde Teil ihres Krieges gegen die Taliban.
Und seine Vorgesetzten waren zufrieden mit ihm, er hat unzählige Zeugnisse gesammelt:
"It has been always a great pleasure to have Mr. Shamsuddin working for me. He has done an outstanding job and performed all tasks to my complete satisfaction."
Paul K., Ziviler Leiter, PAT Taloqan
"Ich würde jederzeit wieder gern mit Herrn Shamsuddin arbeiten und wünsche ihm für seine weitere berufliche Zukunft viel Erfolg."
Peter P., Ziviler Leiter, PRT Kundus
Doch irgendwann begannen die Deutschen, den Kampf gegen die Taliban zu verlieren. Vielleicht werden Historiker den 28. Mai 2011 als einen Wendepunkt in diesem Krieg ausmachen.
An diesem Tag trafen sich hochrangige Vertreter der afghanischen Regierung mit ihren deutschen Verbündeten im Gouverneurspalast der nordafghanischen Stadt Taloqan, einem zweigeschossigen Zweckbau, umgeben von hohen Mauern.
Nach dem Meeting im ersten Stock gingen die Anwesenden in die Eingangshalle runter. Noori war gerade auf der Treppe, als die Explosion einer Bombe ihn zu Boden riss. Er stürzte auf die Stufen, in seinen Ohren schrillte es, dicker Rauch biss in seine Augen und seine Lunge. Fünf Afghanen und zwei Deutsche starben. Mehr deutsche Soldaten rückten an, um das Gebäude zu sichern. Noori wurde ans Tor geschickt, um die herandrängende Menschenmenge aus Schaulustigen zu beruhigen.
Ein deutscher Soldat kniete einige Meter hinter ihm, das Sturmgewehr im Anschlag und auf jede Person gerichtet, die näher kam.
Noori stand zwischen der deutschen Gewehrmündung und seinen afghanischen Landsleuten. Er war jetzt nicht mehr nur Teil des Kampfes der Deutschen, er war jetzt auch eines seiner Gesichter.
Bekannte in den Sicherheitsbehörden warnten ihn bald: Weil du mit den Deutschen arbeitest, wollen die Taliban dich umbringen.
Die USA und andere Staaten hatten zu diesem Zeitpunkt bereits Schutzvisaprogramme für bedrohte Lokalkräfte aufgenommen. Deutschland zierte sich. Obwohl die Bedrohungen merklich zunahmen.
Ein Freund von Noori, ebenfalls Übersetzer, war zu der Zeit mit dem Bus unterwegs gewesen, als die Taliban ihn stoppten. Sie exekutierten Nooris Freund und ließen seine Leiche im Staub liegen.
Im Oktober 2013 zieht Noori mit den Deutschen nach Mazar-i-Scharif um, hofft, dass seine Feinde ihn dort nicht finden werden. Doch es sind längst nicht mehr nur die Taliban, die Jagd auf ihn machen. Wer mit den Deutschen arbeitet, verdient viel Geld, glauben viele Afghanen. Das macht Noori zum Ziel.
Eines Abends verlässt er um kurz nach Mitternacht das Konsulat. Kurz vor seinem Zuhause greifen ihn zwei Männer an. Einer schlägt ihm mit einem harten Gegenstand auf den Kopf. Sie stoßen ihn zu Boden, zerren ihn zu ihrem Auto.
Der Boden ist schlammig, Noori versucht, sich freizukämpfen, die drei wälzen sich auf dem Boden, schlagen aufeinander ein. Ein Auto kommt die Straße entlang. Die Angreifer lassen ab. Es ist ein Wendepunkt.
Noori begreift, dass er und seine Familie fliehen müssen. Seine Schwestern verlassen aus Angst kaum noch das Haus, seine Mutter macht die ständige Bedrohung krank, sein Vater ist zu alt, um die Familie zu beschützen. Noori als einziger gesunder Mann in der Familie ist verantwortlich für sie. Wenn er geht, müssen sie mitkommen.
Im Konsulat heißt es, dass das nicht geht. Er könne aber mit seiner Frau und seinen Kindern vorgehen, von Deutschland aus den Fall wieder eröffnen und seine Eltern und Schwestern dann nachholen. Das wäre problemlos möglich, Noori solle sich nicht sorgen...
Quelle : spiegel.de
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