Nach dem „Mauerfall“: Aus „Wir sind das Volk!“ wird „Wir sind ein Volk“

  14 November 2019    Gelesen: 1286
    Nach dem „Mauerfall“:   Aus „Wir sind das Volk!“ wird „Wir sind ein Volk“

Die anwachsenden Proteste in der DDR im Herbst 1989 haben zuerst Veränderungen im Land eingefordert. Das Ziel hat sich verändert, nachdem vor 30 Jahren mit einem mal die Grenze für alle DDR-Bürger offen war. Statt Reformen haben die Demonstranten nun zunehmend die deutsche Einheit gefordert – mit aktiver westdeutscher Unterstützung.

Nach der Grenzöffnung in der Nacht vom 9. November 1989 zeigte sich bei den anhaltenden Demonstrationen in den Städten der DDR ein Stimmungsumschwung. Zuvor wurden vor allem demokratische Veränderungen eingefordert und das eigene Land nicht in Frage gestellt. Den Machthabenden von der SED wurde klar gemacht: „Wir bleiben hier!“, „Keine Gewalt!“ – und „Wir sind das Volk!“

Die neue SED-Führung reagierte auf den zunehmenden Proteste und die anhaltende Ausreisewelle mit einem übereilten Schritt, mit dem die Reisefreiheit für alle DDR-Bürger eingeführt werden sollte. Daraus wurde die überraschende Grenzöffnung, nachdem der neue SED-Generalsekretär Egon Krenz die geplante Reiseverordnung zu früh veröffentlichen ließ. Danach kam es nicht mehr nur vereinzelt wie bei der Großdemonstration am 4. November 1989 in Ost-Berlin oder den Montagsdemonstrationen in Leipzig zu Rufen nach „Deutschland – einig Vaterland“.

Gezieltes Kalkül

Aus der verbreiteten Losung „Wir sind das Volk!“ wurde „Wir sind ein Volk!“ und Deutschland-Fahnen begannen das Bild der Demonstrationen zu bestimmen. Das war kein Zufall oder nur eine einfache Folge dessen, dass Millionen DDR-Bürger sich nun ein eigenes Bild von den Zuständen in der BRD machen konnten und davon begeistert zurückkehrten. Dahinter steckte gezieltes Kalkül westdeutscher politischer Kreise, die Stimmung in der DDR in Richtung Wiedervereinigung zu lenken – samt einer geplanten Kampagne. Dafür wurde die nun offene und nur schlecht kontrollierte Grenze zwischen Ost und West genutzt.

Bereits 2005 hat die Journalistin Vanessa Fischer in einem Beitrag für den Sender „Deutschlandradio Kultur“ (heute „Deutschlandfunk Kultur“) nachvollzogen, wie sich die Losungen veränderten. Ihre Recherchen bestätigten, dass es zwar bis zum 9. November 1989 zum Beispiel in Leipzig keine Transparente oder deutliche erkennbare Sprechchöre á la „Wir sind ein Volk“ gab. Dennoch sei diese Losung bereits Anfang Oktober 1989 unter anderem in Leipzig aufgetaucht, auf einem Flugblatt.

Dessen Autor, Thomas Rudolph vom damaligen Leipziger Arbeitskreis Gerechtigkeit erklärte das gegenüber Fischer noch so: „Das ist ein Satz ,der sich ganz normal ergab, weil ich deutlich machen wollte, dass diejenigen, die zwangsweise gerade beim Militär waren, jetzt in der Gefahr standen, gegen die Bevölkerung vorzugehen, letztlich auch auf der Seite der Demonstranten standen. Das wollte ich mit diesem Satz zum Ausdruck bringen.“

Geplante Kampagne

Die „Bild“-Zeitung hat dann laut Fischer am 11. November 1989, als immer noch unzählige DDR-Bürger über die für alle geöffneten Grenzübergänge in den Westen strömten, das erste Mal getitelt: „‘Wir sind das Volk‘ rufen sie heute – ‚Wir sind ein Volk‘ rufen sie morgen!“ Das sei mit voller Absicht geschehen, erklärte Herbert Kremp, Autor des „Bild“-Kommentars, der Journalistin. Für ihn sei klar gewesen: „Die Wiedervereinigung wird kommen, das war damals, also am 11.11, also genau in dieser Novemberzeit, eigentlich noch gar nicht so ein Tenor der offiziellen Politik.“

Dagegen sah Peter Radunski, damals CDU-Wahlkampfmanager, bereits am 9. November 1989 die neuen Chancen für den politisch angeschlagenen Bundeskanzler Helmut Kohl. Laut Fischer schrieb er an dem Tag in seine Notizbuch: „Thema Wiedervereinigung jetzt besetzen!“ So sei dann hinter den Kulissen ab 11. November 1989 ein Kommunikationsplan entstanden mit dem Ziel, die Meinungsführerschaft in der Öffentlichkeit zu übernehmen.

Radunski schilderte in dem Beitrag, wie das weiterging: Bei einer Kommunikationsrunde im Adenauer-Haus in Bonn am 16. November sei beschlossen worden, ein Plakat mit der Losung „Wir sind ein Volk“ zu machen. Dabei sei der DDR-Slogan „Wir sind das Volk“ gezielt aufgegriffen worden. Die CDU habe dann ihre Landesverbände im Westen auf die Kampagne eingeschworen und aufgefordert, sie in der Noch-DDR einzusetzen. Das sei dezentral geschehen, so der Wahlkampfmanager und Ex-Politiker.

Leere Zusagen

Fischer zitierte einen schriftlichen Vermerk der CDU-Bundesgeschäftsstelle aus der Zeit: „Versand an die Kreisverbände: Plakate ‚Wir sind ein Volk‘ – Erste Auflage 12.800 Stück. Aufkleber ‚Wir sind ein Volk‘ – Erste Auflage: 100.000 Exemplare. Zweite Auflage: 300.000 Exemplare.“ Der Autorin gegenüber sagte Klaus Landowsky, damals Generalsekretär der Berliner CDU: „Der Satz hat die Leute erreicht. Und Journalisten haben das vernünftigerweise auch so geschrieben, kampagnenfähig haben wir den Satz gemacht.“

Krenz hatte noch am 11. November 1989 mit Kanzler Kohl telefoniert und ihn gebeten, sich nicht in die Vorgänge in der DDR einzumischen und eine schnelle Einheit zu vermeiden: „Also ich wäre sehr, sehr dafür, Herr Bundeskanzler, wenn wir vor allem bestimmte Emotionen ausräumen, bei Leuten, die nun am liebsten alles über Nacht beseitigen möchten. Aber die Grenze durchlässiger zu machen, bedeutet ja noch nicht, die Grenze abzubauen.“

Der SED-Chef betonte noch, „dass gegenwärtig die Wiedervereinigung Deutschlands nicht auf der Tagesordnung steht“. Kohl antwortete, „vom Grundverständnis her - sind wir da ganz anderer Meinung“ Das sei aber „jetzt nicht das Thema, das uns im Augenblick am meisten beschäftigt. Sondern im Moment muss uns beschäftigen, dass wir zu vernünftigen Beziehungen zueinander kommen. Und dass die Menschen dies auch akzeptieren.“

Erfolgreicher Wahlkampf

Das verbale Geplänkel zwischen Krenz und Kohl interessierte die Mannschaft hinter dem Kanzler nur wenig. Sein ehemaliger Wahlkämpfer Radunski schilderte gegenüber dem „Mitteldeutschen Rundfunk“ (MDR) in einem am 6. Oktober dieses Jahres gesendeten Beitrag noch einmal, wie es zu der Kampagne kam. Allerdings war laut MDR auf den Demonstrationen in der DDR im Herbst 1989 nicht der Slogan „Wir sind ein Volk“ zu hören gewesen, sondern „Deutschland, einig Vaterland“ – das stammte aus dem Text der einstigen DDR-Nationalhymne.

Der Slogan „Wir sind ein Volk“ wurde zum Motto der „Allianz für Deutschland“, die unter der Schirmherrschaft der West-CDU zur letzten Volkskammer-Wahl am 18. März 1990 antrat. Von Mitte Januar 1990 an wird er in der DDR flächendeckend plakatiert. Auf den Wahlplakaten warb die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Lothar de Maizière und diesem Spruch, als wäre es ein Zitat von ihm. Die von der West-CDU gesteuerte „Allianz“ gewann die Wahl am 18. März 1990 mit 48 Prozent deutlich und läutete das endgültige Ende der DDR ein.

Es ist schwer, nachzuweisen, inwieweit der gezielt eingesetzte Slogan dazu beigetragen hat oder ob es an der Realität in der untergehenden DDR lag. Interessant ist, dass Meinungsumfragen im November 1989 zeigten, dass selbst Wähler der DDR-CDU sich noch mit 83 Prozent für einen „besseren, reformierten Sozialismus“ aussprachen. Anfang 1990 seien es nur noch 29 Prozent gewesen, schrieben die beiden Leipziger Meinungsforscher Peter Förster und Günter Roski 1990. Anfang Februar 1990 hätte noch knapp die Hälfte aller DDR-Bürger von der „Idee eines freiheitlichen, demokratischen Sozialismus“ viel bzw. sehr viel gehalten.

Gezielte Meinungsmache

In dem Buch der beiden Soziologen „DDR zwischen Wende und Wahl“ ist ebenfalls zu lesen, dass schon Ende November 1989 rund die Hälfte der DDR-Bürger die deutsche Einheit bejahte. „Dieser Anteil schnellte bis Ende Januar/Anfang Februar auf rund 80 Prozent“, so Förster und Roski. Sie sahen das als „Ausdruck eines kräftigen Schubs in der Willensbildung des Volkes in Richtung auf die Einheit des Vaterlandes“.

Und: „Der Ruf ‚Wir sind ein Volk‘, anfangs nur auf den Demonstrationen zu hören, hatte zu Jahresbeginn 1990 eine Massenbasis gefunden und forderte beide deutsche Regierungen zum schnellen Handeln auf. Und es waren vor allem Arbeiter, die sich hinter diese Forderung stellten und ihr damit besonderes Gewicht verliehen.“ Die CDU-Strategen um Radunski dürften sehr zufrieden gewesen sein.

Albrecht Müller, Herausgeber des Online-Magazins „Nachdenkseiten“ und ehemaliger SPD-Politiker, hat unlängst ebenfalls den Weg der Losung nachgezeichnet. In seinem neuen Buch „Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst“ über politische Manipulationen geht er darauf ein. Der frühere SPD-Wahlkämpfer erinnert sich, dass er im Dezember 1989 Willy Brandt bei Auftritten in der DDR begleitet hatte. Dabei sei ihm aufgefallen, dass die Unionsparteien schon die Meinungsführerschaft innehatten.

Müller schreibt: „Der Prozess der Vereinigung in Deutschland war noch durch eine Fülle anderer Propagandaaktionen und Strategien der Meinungsmache geprägt. Kohls Versprechen, blühende Landschaften in der DDR schaffen zu wollen, muss man auf die beschriebene Methode der Manipulation ‚Übertreiben, es wird etwas hängen bleiben‘ spiegeln.“ Der gesamte Vorgang der sogenannten deutschen Wiedervereinigung ist aus seiner Sicht „ein Tummelfeld für nicht endende Versuche der Meinungsmache“ gewesen, „politisch sehr erfolgreich und sachlich hoch problematisch“.

sputniknews


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