Erdogans Balkan-Missverständnis

  19 November 2019    Gelesen: 801
Erdogans Balkan-Missverständnis

Hunderte Jahre herrschten die Osmanen auf dem Balkan. Inzwischen hat die Türkei die Region außenpolitisch wiederentdeckt. Präsident Erdogan versucht, seinen Einfluss zu vergrößern - und überschätzt sich dabei.

"Wir müssen überall dort hingehen, wo unsere Ahnen einst waren", sagte Recep Tayyip Erdogan im November 2012, als er einen Regionalflughafen eröffnete. In seiner Rede ging es dabei um weit mehr als die Möglichkeit zu reisen. Der heutige Präsident der Türkei skizzierte auch seine außenpolitische Strategie. Inspiriert vom Osmanischen Reich versucht Erdogan, seine Macht auszubauen - und bemüht sich dabei zunehmend um die Westbalkanstaaten.

Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und das Kosovo wurden lange von den Osmanen beherrscht. Sichtbar ist das bis heute zumindest an architektonischen Überbleibseln in der Region. Ankara sieht zu den sechs Ländern aber weitere historische und religiöse Berührungspunkte - und begründet damit das gesteigerte Interesse an der Region.

"In der Türkei glaubt man aufgrund der Geschichte an eine ethnische und religiöse Verwandtschaft mit einigen Bevölkerungsgruppen auf dem Balkan, so werden die Muslime dort als Glaubensbrüder wahrgenommen", sagt Balkan-Experte Dusan Reljic von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. Tatsächlich aber gebe es große Unterschiede zwischen den türkischen Muslimen und jenen der einzelnen Balkanländer.

Türkei hat Engagement auf dem Balkan ausgebaut

Vor allem in Bosnien-Herzegowina und später im Kosovo stilisierte sich die Türkei dennoch als Schutzmacht der muslimischen Bevölkerung - "als größter Bruder des muslimischen Volkes in der Region", wie Erdogan vor einigen Jahren verlauten ließ. Dabei hat Ankara sein Engagement in den vergangenen Jahren zunehmend ausgedehnt. Die Türkei versucht, ihre wirtschaftliche, politische und religiöse Präsenz zu erhöhen.

  • In Albanien hat die Türkei in Fluggesellschaften, Telekommunikation und Infrastrukturprojekte sowie ins Bankwesen investiert. Die älteste private Universität befindet sich in türkischer Hand. Präsident Edi Rama sieht in Erdogan einen "engen Freund", war Gast bei der Hochzeit von dessen Tochter Sümeyye.
  • Im Kosovo betreibt ein von der türkischen Regierungspartei AKP kontrolliertes Unternehmen den Flughafen der Hauptstadt Pristina. Auch das Stromnetz im Land gehört der Firma. Ankara erkannte frühzeitig die Unabhängigkeit des Kosovo an und half beim Wiederaufbau.
  • Der Flughafen von Nordmazedoniens Hauptstadt Skopje gehört einem türkischen Unternehmen.
  • Eine traditionell enge Beziehung pflegt Ankara zu Bosnien-Herzegowina. Reisen in die Türkei werden von Ankara subventioniert, in Kulturzentren gibt es Türkischunterricht. Hinzu kommen türkische Investitionen ins Bankenwesen, den Straßenbau sowie Tankstellen - und der Versuch, die Ausrichtung des Islam mitzuprägen, beispielsweise mit der Ausbildung von Imamen.
  • Zum überwiegend slawisch-orthodox geprägten Serbien bemüht sich Erdogan um ein gutes Verhältnis. Die Türkei ist im serbischen Energiesektor aktiv. So soll eine Gaspipeline zwischen beiden Ländern gebaut werden.
  • Ankara lässt zudem in der gesamten Region Denkmäler und Moscheen restaurieren und bauen. Subtiler ist der Einfluss über Fernsehproduktionen. Exporthit auf dem Balkan sind Liebesgeschichten, die im Osmanischen Reich spielen. Der romantisierende Blick ist dabei nicht nur beliebter TV-Plot, sondern auch Grundlage der außenpolitischen Strategie.

     

Ist die Türkei mehr als ein nützlicher Partner?

Vordenker des sogenannten neoosmanischen Ansatzes ist der einstige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Es geht dabei um eine Anbindung islamischer Länder und die Vorherrschaft der Türkei. Erdogan und Davutoglu haben sich mittlerweile überworfen. Ankaras Außenpolitik ist aber nach wie vor von der neoosmanischen Idee geleitet.

Nachdem die EU sich im Oktober nicht auf Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien einigen konnte, wurden Befürchtungen laut, der Balkan könnte sich zunehmend der Türkei zuwenden. Nicht ganz abwegig, wenn man Bilder jubelnder Bürger mit türkischen Flaggen sieht - wie im Juli in der albanischen Hauptstadt Tirana. Dort wurde in diesem Jahr ein Denkmal für die Opfer des Putschversuches in der Türkei eröffnet. Tatsächlich aber überschätzt Erdogan seine Strahlkraft auf dem Balkan.

"Die türkischen Ambitionen zerschellen an der Realität", sagt Reljic. Ihnen liege ein Missverständnis zugrunde: "Während die Türkei sich als Verbündeter sieht und davon ausgeht, großes Ansehen zu genießen, sehen die Balkanstaaten in Ankara einen nützlichen Partner, um kurzfristige, oft tagespolitische Interessen, auch gegenüber westlichen Staaten, durchzusetzen." Ein Beispiel dafür seien die diplomatischen Bemühungen der Türkei, um zwischen Serbien und den bosnisch-muslimischen Führern zu vermitteln.

Aktuell wendeten sich vor allem das Kosovo und Albanien vermehrt der Türkei zu, um damit Druck auf die EU auszuüben, sagt Florian Bieber, Leiter des Zentrums für Südosteuropastudien an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er geht aber nicht davon aus, dass die Länder sich an der Türkei statt der EU orientieren. Daran wird sich laut Bieber nichts ändern, auch wenn sich durch die Verzögerungen im EU-Integrationsprozess vor allem die Staaten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung benachteiligt fühlten. "Für sie sieht es so aus, als gebe es in der EU keine Perspektive für muslimische Länder." Erdogan unterstütze diese Interpretation.

Gleichzeitig hat der Umgang mit dem gescheiterten Putsch 2016 dem Ansehen Ankaras geschadet, auch auf dem Balkan. Galt die Türkei noch vor einigen Jahren als Modell für eine demokratisch-muslimische Regierung, ist dies spätestens seit dem Putschversuch nicht mehr der Fall. Erdogan machte mit seiner Jagd auf vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung, die er für den Putsch verantwortlich macht, nicht an der Landesgrenze halt.

Er versuchte, die Balkanstaaten unter Druck zu setzen, forderte mehrfach Auslieferungen und die Schließung von Gülen-Einrichtungen. "Die Länder leisteten dagegen starken Widerstand", sagt Bieber. Die Ansprüche Ankaras stünden in Gegensatz zu denen der EU, im Zuge der Beitrittsbestrebungen habe man versucht, Erdogans Forderungen zu widerstehen.

Schließlich wurde bekannt, dass sechs türkische Lehrer - angebliche Putschisten - aus dem Kosovo in die Türkei verschleppt worden waren. Dies und die Einmischungsversuche der Türkei lösten auf dem Balkan Empörung aus und schürten Ressentiments.

Deswegen sei die EU für die Balkanstaaten sehr viel attraktiver, sagt Experte Reljic. Ankara biete der Bevölkerung weder wirtschaftlich noch kulturell, finanziell oder zivilisatorisch das, was sie in der EU sähen. "Die Türkei war nie eine Alternative zur EU und wird es auch nie sein. Der Mainstream blickt nach Westen", sagt er. Auch Bieber sagt: "Ankara kann der EU nichts entgegensetzen."

Wenn sich die Balkanstaaten der EU zuwenden, wäre das eine schwere Niederlage für Erdogan. Sein Land hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend von der EU entfremdet - und das, obwohl er die Türken noch vor zwei Jahren als "Zukunft Europas" bezeichnete.

spiegel


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