Kilometer um Kilometer ist gepflastert mit Fabrikgelände. Dicht an dicht stehen Werkshallen mit dem Charme überdimensionierter Container. Dazwischen schnurgerade Straßen, wie mit dem Lineal gezogen, nicht für Fußgänger, sondern für den Transport von schwerem Gerät gebaut. Das Industriegebiet in und um Bursa im Nordwesten der Türkei, rund 100 Kilometer von Istanbul entfernt, ist eine der dynamischsten Regionen des Landes, Tausende Firmen haben sich hier in den vergangenen Jahrzehnten angesiedelt. Die Region ist heute auch das pulsierende Zentrum der türkischen Autoindustrie. Bosch, Fiat, Ford, Renault - alles von internationalem Rang und Namen ist vertreten.
Nicht umsonst wird die viertgrößte Stadt des Landes "Detroit der Türkei" genannt. Was ein Unternehmerherz sich wünscht, ist vorhanden: Es mangelt nicht an Nachwuchskräften, es gibt sechs Universitäten und zehn Forschungs- und Entwicklungszentren. Die großen internationalen Namen, die an den Werkstoren prangen, wirken fast wie ein Appell: Der Investitionsstandort Türkei ist besser als sein Ruf, scheint irgendwo unsichtbar zu stehen.
Aber der Schein trügt: Lira-Crash, Handelskrieg, die instabile innenpolitische Lage und nun auch noch die viel kritisierte Syrien-Politik - das alles hinterlässt Spuren. Die türkische Wirtschaft hat ihren Zenit überschritten, die Konjunktur schrumpft. Nach Jahren des Wachstums muss sie um neues Vertrauen werben. Das Land braucht dringend neue Investoren. Wie dringend, sehen Reisende bereits bei der Landung am Istanbuler Flughafen, wo Plakate für mögliche Investitionen werben. Land und Leute ächzen unter einer Arbeitslosenrate von 14 Prozent sowie unter der immer noch extrem schwachen Lira. Laut dem Ökonomen Steve Hanke von der Hopkins University in Baltimore lag die Teuerung im Mai immer noch bei knapp 50 Prozent, auch wenn die offiziellen Zahlen sie lediglich bei 18,7 Prozent verorteten.
Auch die Automobilbranche bekommt das zu spüren. Ihr Erfolg ist größtenteils auf Export gebaut. Fast jedes zehnte Auto der 28 EU-Staaten kommt aus der Türkei. Obwohl weiterhin geklotzt wird - laut dem türkischen Autoverband OIB (Automotive Industry Exporters Association) wurden 2018 in der Türkei über 1,3 Millionen Autos für den Export gefertigt - sind sowohl die Produktion als auch die Ausfuhren rückläufig. Die ganze Misere zeigen die inländischen Verkäufe: Hier schrumpfte der Umsatz im Krisenjahr 2018 um ein ganzes Drittel.
"Entscheidung nicht nachvollziehbar"
Entsprechend groß war die Vorfreude auf das mögliche neue VW-Werk in der westtürkischen Provinz Manisa, unweit der Hafenstadt Izmir. Hier setzt sich die Industrieregion in den Süden fort. "VW ist sehr wichtig. Alle warten auf den größten Autohersteller der Welt," sagt OIB-Verbandschef Baran Çelik bei einem Gespräch in der vergangenen Woche. Vor allem die Zuliefererbranche setze ihre Hoffnungen auf dieses Werk. Die Ansiedlung des größten Autobauers der Welt soll neue Synergien schaffen und wie ein Magnet wirken. Im Sommer schien der Deal so gut wie sicher. Er wäre wohl auch sang- und klanglos über die Bühne gegangen, wäre die Türkei nicht in die Kurdengebiete in Syrien einmarschiert. Nun liegt das Projekt auf Eis. Die Konzernspitze in Wolfsburg und der Betriebsrat konnten einen größeren Imageschaden nur noch durch einen Rückzieher verhindern.
Auf türkischer Seite ist das Verständnis dafür begrenzt. "Ich kann es verstehen, nachvollziehen kann ich es nicht", sagt Çelik vor deutschen Pressevertretern. Etwas gepresst folgt die Erklärung: "Die Türkei versucht ihre Grenzen zu sichern. Sie ist sich da ihrer Sache sehr sicher."
Trotz der deutlichen konjunkturellen Abkühlung bevorzugen es Verband wie Unternehmen, die Lage schönzureden: "In der Türkei kann sich - vor allem in finanziellen Dingen - alles schnell ändern", sagt Güven Özyurt, Produktionsvorstand bei Ford Otosan. Mit knapp 11.000 Beschäftigten ist es das größte Automobilunternehmen im Land. Es scheint auch diese Wandlungsfähigkeit zu sein, weshalb die türkischen Unternehmer die Hoffnung auf das neue VW-Werk nicht aufgeben.
Leute, Löhne, Logistik
Wolfsburg hatte den kommerziellen Reiz des Standorts für sich erkannt. Eine "politische Aussage" sollte die neue Fabrik nie sein. Zumindest an den wirtschaftlichen Bedingungen hat sich, seitdem das Thema aufgekommen ist, nichts geändert. Die Türkei ist immer noch ein Boom-Absatzmarkt. Nach Berechnungen des CAR-Instituts der Universität Duisburg-Essen könnte der Pkw-Weltmarkt noch mehr als viermal so groß werden wie heute. Während große Märkte wie in den USA und Deutschland größtenteils gesättigt sind, hat die Türkei noch viel Aufholpotenzial.
Der Plan war, den Passat genau dort zu bauen, wo seine größten Fans sitzen: in der Türkei. Gleichzeitig hätte VW unter anderem im Emdener Werk Platz geschaffen für die Produktion neuer E-Karossen. Manisa gilt als guter Standort für ein Werk, der Ort liegt 40 Kilometer südwestlich von Izmir. Die Industrie- und Hafenstadt ist das Tor zur Welt: Von hier wird ganz Osteuropa mit Autos beliefert.
Hinzu kommt, dass die Türkei ein junges Land ist. Es mangelt nicht an Arbeitskräften, die heute auch deutlich besser ausgebildet sind. Von den knapp 81 Millionen Türken sind fast 13 Millionen zwischen 15 und 24 Jahre alt. Zum Vergleich: Deutschland hat in dieser Altersgruppe bei etwa gleicher Einwohnerzahl lediglich gut 8 Millionen junger Menschen. Als VW Anfang Oktober eine Tochtergesellschaft in Manisa ins Handelsregister eintragen ließ, war die Rede von 4000 Mitarbeitern, die VW in Manisa einstellen könnte, plus weitere 2500 bei Zulieferern.
Auch der niedrige Arbeitslohn ist attraktiv für internationale Investoren. Nach dem Inflationsschub vom vergangenen Jahr bis auf 26 Prozent wurde der Mindestlohn für 2019 bei 2020 türkischen Lira netto festgelegt, umgerechnet 316 Euro. Die türkische Automobilbranche brüstet sich damit, deutlich mehr zu zahlen.
E-Mobility made in Turkey
"Es wäre gut für uns alle", sagt der Chef des türkischen Busbauers Karsan, Okan Baş, voller Überzeugung. Der Busbauer mit gleich zwei Standorten in Bursa schaut ebenso wie Ford Otosan auf eine über 50-jährige Geschichte zurück. Man brüstet sich mit der eigenen Fortschrittlichkeit: Den Wandel vom Verbrenner zur E-Mobilität hat das Unternehmen in seiner Produktpalette längst erfolgreich vollzogen. Karsan ist das erste und einzige türkische Unternehmen, das zwei Elektrofahrzeuge entwickelt und im letzten Jahr die Massenproduktion aufgenommen hat. Die elektrifizierten Busse sind nicht nur in der EU gefragt.
Karsan ist erstaunlich gut vernetzt. Auch mit Deutschland. Die Ausstattung der Elektro-Busse stammt von BMW. Und erst Anfang November wurde eine Kooperation in Sachen Elektromobilität mit der noch jungen Quantron AG aus Augsburg bekannt gegeben. Gemeinsam will man vollelektrische Busse in der Türkei fertigen. Die Augsburger übernehmen exklusiv den deutschlandweiten Vertrieb.
"Die, die in die Türkei investieren, werden gewinnen", ist sich Industrie- und Technologieminister Mustafa Varank beim Gespräch in Ankara sicher: "Wirtschaft und Politik sollten nicht vermischt werden. Wir erwarten, dass VW eine wirtschaftliche, keine politische Entscheidung trifft", wirbt der langjährige Berater von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
Jederzeit "höchst willkommen"
Ein Regierungsvertreter, der nicht namentlich genannt werden will, schätzt die Lage ebenfalls optimistisch ein. VW werde so gute Bedingungen wie die in der Türkei nirgendwo anders finden. Grund, in Berlin oder Wolfsburg nachzuverhandeln oder gar zu betteln, sieht er nicht. Niemand könne Volkswagen zu dem Investment zwingen. Die Entscheidung für oder gegen ein Werk in der Türkei sei eine rein unternehmerische Entscheidung. Man werde einfach abwarten. Auf jeden Fall sei Volkswagen "höchst willkommen". Aber "wenn sie nach Bulgarien gehen wollen, lasst sie gehen". So groß sei das Milliarden-Euro-Investment dann auch wieder nicht, heißt es mit einem leichten Unterton der Genugtuung.
In der Tat kann Volkswagen allein kein Game Changer für die Türkei sein. Dafür gibt es zu viele Probleme. Aber die mögliche Entscheidung des weltgrößten Autobauers für den Standort dürfte positiv ausstrahlen. Die türkischen Unternehmer wollen sich deshalb keinesfalls geschlagen geben. Derzeit bringen sie wöchentlich ihr Anliegen in Ankara vor. Angeblich glühen auch die Drähte nach Wolfsburg. Im Dezember kommt das Projekt in Wolfsburg wieder auf die Tagesordnung. Bulgarien sollte sich als Alternativstandort wohl nicht allzu große Hoffnungen machen.
Quelle: n-tv.de
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