Kohl hält schwierigste Rede seines Lebens

  19 Dezember 2019    Gelesen: 869
Kohl hält schwierigste Rede seines Lebens

Am 19. Dezember 1989 besucht Helmut Kohl Dresden. Nach einem Treffen mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow spricht der Bundeskanzler vor der Ruine der Frauenkirche zu Tausenden Menschen. Um die Einheit nicht zu gefährden, ist dabei politisches Fingerspitzengefühl nötig.

Dresden, 19. Dezember 1989: Helmut Kohl zeigt sich sehr zufrieden: "Rudi, die Sache ist gelaufen", sagt der Bundeskanzler beim Verlassen des Flugzeugs auf dem Flughafen Klotzsche zu Kanzleramtschef Rudolf Seiters. Später spricht Kohl darüber, was er in dem Augenblick dachte, als ihm am Flughafen viele Menschen, bundesdeutsche und sächsische Flaggen schwenkend, zujubelten: "Das Regime ist am Ende und die Menschen wollen die Einheit."

Kohls Besuch in Elbflorenz, wie Dresden auch genannt wird, ist intensiv vorbereitet worden. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Es ist Kohls Wunsch, nicht nach Ost-Berlin zu kommen. DDR-Ministerpräsident Hans Modrow erklärt sich bereit, den Kanzler in Dresden zu empfangen, der Stadt, in der er 16 Jahre lang als SED-Bezirkschef arbeitete. Um wichtige Dinge soll es gehen, vor allem um westdeutsche Finanzhilfe zur Stabilisierung der DDR und um stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Viele Bundesminister sind deshalb im Kohl-Tross.

"Es ist eine Situation, die zu Herzen geht. Es ist aber auch eine Situation, für die man auch den Verstand braucht", sagt Kohl bei seiner Ankunft vor dem Hotel Bellevue im Zentrum Dresdens der versammelten Journalistenschar. Mit Augenmaß müssten die richtigen Schritte getan werden. Im Hintergrund jubeln Tausende Menschen. Die Mehrheit skandiert nicht mehr die bisherige Parole "Wir sind das Volk", sondern "Wir sind ein Volk". Spätestens jetzt wird deutlich, dass die DDR-Bevölkerung auf schnellstmöglichem Wege die Einheit Deutschlands will. Der Eindruck, den Kohl auf dem Flughafen gewonnen hat, verfestigt sich in der Dresdner Innenstadt.

Modrow will die DDR nicht aufgeben

Auch Modrow hat die Stimmungslage in Dresden registriert. Dementsprechend hat er die westdeutsche Seite bereits im Vorfeld des Treffens auf die entsprechende Brisanz der Unterredung hingewiesen. Aber Kohl begreift selbst die Situation und agiert dementsprechend vorsichtig.

So nimmt das Thema Einheit auch breiten Raum beim Gespräch zwischen Kohl und Modrow im Hotel Bellevue ein. Der Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers vom 28. November ist in der DDR äußerst reserviert aufgenommen worden. Das wird auf der Pressekonferenz deutlich, wo beide Spitzenpolitiker ihre Meinungsverschiedenheiten nicht verhehlen.

Dabei wird Modrow sehr deutlich. "Ich gehe davon aus, dass die Existenz der Deutschen Demokratischen Republik eine Chance ist, die wir nicht aufgeben", sagt der DDR-Regierungschef in einem freundlichen, aber bestimmten Ton. Kohl antwortet darauf diplomatisch: "Es kommt gewiss nicht darauf an, mit welch einer Prämisse man am Morgen aufsteht und wie man beschließt, am Abend zu Bett zu gehen, um dann in die Geschichte einzugehen. Jetzt geht es darum, dass wir mit einem hohen Maß an Sensibilität für die Probleme unserer Zeit hier in Deutschland und außerhalb deutscher Grenzen, in Ost und in West versuchen, klug und richtig zu entscheiden. Die jungen Leute, die draußen stehen, die wollen Zukunft haben hier in Dresden, Leipzig, Halle und anderswo. Unsere Pflicht ist, finde ich, ihnen dabei zu helfen."

"Eine wichtige, aber auch gefährliche Stunde"

Dem Kanzler steht in der sächsischen Metropole noch ein schwieriger Spagat bevor. Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer sagt beim Mittagessen, dass die Stadtverwaltung ein Podium vor der Ruine der Frauenkirche aufbauen werde, damit Kohl dort zu den Menschen sprechen könne. Laut Kohl ist nichts vorbereitet, sein Stab arbeitet mit Hochdruck an einer Rede. Bereits am Vorabend des Besuchs in Dresden ist im Bonner Kanzleramt darüber gesprochen worden. "Er hatte Papier vor sich liegen, hat aus diesem Gespräch Stichworte aufgenommen und mit seinem dicken schwarzen Stift auch diese Stichworte notiert", sagte Kohls Berater Horst Teltschik später im Deutschlandfunk.

Kohl spürt, dass ihm "eine wichtige, aber auch gefährliche Stunde" bevorsteht. Was geschieht zum Beispiel, wenn die Leute zum Abschluss der Veranstaltung die Nationalhymne anstimmen? Es herrscht die große Besorgnis, dass statt der dritten die erste Strophe des Deutschlandliedes angestimmt werden könnte. Kohl: "Die Leute konnten es ja nicht wissen." Er versucht, einen Kirchen- und Posaunenchor zu aktivieren, der mit "Nun danket alle Gott" das großdeutsche Gespenst hinwegsingen und -blasen könne. Das klappt aber nicht, ist später glücklicherweise auch nicht notwendig.

Für Kohl ist es "die schwierigste Rede, die ich je gehalten habe". Die Stimmung vor der Ruine ist angespannt. "Deutschland einig Vaterland", rufen Tausende Menschen. Deutschen Medien zufolge sind es 100.000, Teilnehmer halten diese Angaben für grob übertrieben und sprechen von rund 20.000 Menschen. Kohl ist bewegt und nervös. Er bedankt sich erst einmal "für dieses freundschaftliche Willkommen". Er weist auf die vielen internationalen Journalisten hin, die nach Dresden gekommen seien. "Ich finde, wir sollten denen gemeinsam demonstrieren, wie wir mitten in Deutschland eine friedliche Kundgebung durchführen können." Kohl bittet seine Zuhörer, "sich bei aller Begeisterung auf die paar Minuten unserer Begegnung zu konzentrieren". Er spricht seine Anerkennung und Bewunderung "für diese friedliche Revolution in der DDR" für Demokratie, Frieden und Freiheit aus. "Wir respektieren das, was sie entscheiden für die Zukunft des Landes."

"Einheit unserer Nation" als Ziel

Der Kanzler agiert äußerst geschickt, indem er auf sein Gespräch mit Modrow hinweist, um "in dieser schwierigen Lage der DDR" zu helfen: "Wir lassen unsere Landsleute in der DDR nicht im Stich." Kohl weist auf den "schwierigen Weg in die deutsche Zukunft" hin. In den nächsten Wochen werde intensiv an einer Vertragsgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten gearbeitet. Zwischendurch ertönt immer wieder "Einheit, Einheit". Kohl greift das auf und betont, dass die Menschen "in ihrer Heimat ihr Glück finden sollen". Er bleibt vorsichtig und spricht über die Schaffung konföderativer Strukturen. Dann kommt der wichtigste Satz seiner Rede: "Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation." Großer Jubel und "Deutschland, Deutschland"-Rufe. Kohl weiter: "Und, liebe Freunde, ich weiß, dass wir dieses Ziel erreichen können und dass die Stunde kommt, wenn wir gemeinsam dafür arbeiten, wenn wir das mit Vernunft und mit Augenmaß tun und mit Sinn für das Mögliche." Zum Abschluss wünscht Kohl den Kundgebungsteilnehmern ein frohes Weihnachtsfest und sagt: "Gott segne unser deutsches Vaterland."

Kohls Dresdner Rede kommt auch im Ausland gut an. Ihre ausgewogene Art sorgt mit dafür, dass bei den Alliierten die Befürchtungen über einen deutschen Alleingang beseitigt werden. Der Grundstein für eine spätere Zustimmung der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges für die Einheit Deutschlands ist gelegt.

Öffnung des Brandenburger Tores in Berlin

Und eine weitere wichtige Einigung gab es zwischen dem Bundeskanzler und dem DDR-Regierungschef: die Öffnung des Brandenburger Tores in Berlin noch vor Weihnachten. Am 22. Dezember durchschreiten Kohl und Modrow gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister West-Berlins, Walter Momper, sowie Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack das geschichtsträchtige Bauwerk. Zudem gibt es ab Heiligabend den visafreien Reiseverkehr für die Bürger der Bundesrepublik und West-Berlins in die DDR. "Berlin, nun freue dich", ruft Momper den Anwesenden zu.

Obwohl Kohl sich sicher ist, dass der Einheitszug nicht mehr aufzuhalten ist, wird der Kanzler von der Dynamik des Prozesses dann doch überrascht. Bereits gut ein Dreivierteljahr später wird das vom ihm in Dresden proklamierte Ziel der "Einheit der Nation" Wirklichkeit.

Das Ende des Ostblocks: Die Jahre 1989 und 1990 stehen für den politischen Umbruch in Osteuropa. Wichtige Ergebnisse sind das Ende des Kalten Krieges sowie der Teilung Deutschlands und Europas. In einer losen Reihe beleuchtet n-tv.de die Ereignisse von vor 30 Jahren.

Quelle: n-tv.de


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