Im vergangenen Jahr ist der Klimaschutz mit Wucht in die politische Debatte eingeschlagen. Seit der Finanzkrise von 2008 gibt es wieder eine Konfliktlinie mit globaler Dimension. Die Eurorettungspolitik ab 2010 oder die Migrationspolitik nach 2015 spielten sich im europäischen oder nationalen Rahmen ab. Dennoch haben sie die Gesellschaft in Deutschland und Europa extrem polarisiert, Mehrheitsverhältnisse in Parlamenten nachhaltig verändert. Gegen die Veränderungen und Konflikte, die die Klimapolitik auslösen könnte, wirkt all das wie ein Sturm im Wasserglas.
Denkt man die Konsequenzen des Klimawandels zu Ende; mit allen Auswirkungen, die der Prozess auf nahezu jeden Lebensbereich haben wird, verkümmert im Verglich dazu sogar die Drohkulisse der globalen Finanzkrise von 2008 zu einer lösbaren Krise in einem Teilbereich menschlichen Daseins. 2020 wird für das Über-Thema Klimapolitik ein wichtiges Jahr. Für die Frage, ob der Mensch die von Wissenschaftlern vorhergesagte Entwicklung abwenden kann, sogar ein entscheidendes.
Die Politik hat sich viel vorgenommen. Schon im März will Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Details des EU Green Deals vorlegen, dem billionenschweren Plan also, der die Union bis 2050 CO2-neutral machen soll. Wie das funktionieren soll, ist noch ungewiss. Denn der Haushalt, aus dem das Projekt finanziert werden soll, wird erst beschlossen, wenn Deutschland im zweiten Halbjahr die Ratspräsidentschaft übernimmt. Zudem wurde beim Abschluss des Pariser Klimaabkommens 2015 vereinbart, 2020 an den Verhandlungstisch zurückzukehren und darüber zu sprechen, was bisher erreicht wurde. Das soll im November in Glasgow stattfinden. Eine Revision des bisher geschafften also. Die Bilanz ist allerdings nicht besonders gut.
Ab jetzt müssen die Emissionen sinken, aber kräftig
Aus wissenschaftlicher Sicht läuft die Zeit davon. Nach vielen Berechnungen, etwa denen des Umweltbundesamtes, muss 2020 die Wende hin zu einem weltweit sinkenden CO2-Ausstoß vollzogen werden - insofern die Staaten ihre Selbstverpflichtung, die Erderwärmung auf 1,5 bis 2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, einhalten wollen. Tatsächlich hat sich der Anstieg der Emissionen 2019 bereits deutlich verlangsamt. Nach einer Studie des Global Carbon Project stieg der weltweite CO2-Ausstoß um nur noch 0,6 Prozent. 2018 betrug der Zuwachs noch 2,1 Prozent, 2017 waren es 1,5 Prozent. Es gibt also eine Tendenz hin zur Stagnation der Emissionen. Um die Pariser Klimaziele einzuhalten, müsste der CO2-Ausstoß jedoch rapide sinken. Von 2020 an um 7,6 Prozent jährlich - bis 2030.
Gelingt das nicht, warnen Forscher, könnten gefährliche Kipppunkte erreicht werden. Werden diese überschritten, so das Szenario, wird aus einer linearen eine disruptive Entwicklung. Durch Einzelereignisse könnte sich die Erderwärmung exponentiell beschleunigen. Ein beliebtes Beispiel: das Abschmelzen des Eises im Nordpolarmeer. Es verursache nicht nur - für sich gesehen - einen Anstieg des Meeresspiegels, sondern das fehlende weiße Eis reduziere darüber hinaus die Reflektion von Sonnenlicht, was die Ozeane zusätzlich anheize. Auswirkungen könnte das zusätzliche salzarme Schmelzwasser im Nordpolarmeer außerdem auf den Verlauf des Golfstroms haben, was sich wiederum auf die innertropische Konvergenzzone auswirken könnte, die über Leben und Sterben des tropischen Regenwaldes in Südamerika bestimmt. Es könnte - so die Theorie - eine gefährliche Kettenreaktion entstehen.
Die europäische und allen voran die deutsche Klimapolitik will erklärtermaßen in den kommenden Jahren gewissermaßen ein politischer Kipppunkt für den globalen Kampf gegen den Klimawandel sein. Der CO2-Verzicht in der EU allein, wird die lineare Entwicklung der weltweiten Emissionsbilanz nicht um das erforderliche Maß beeinflussen. Die 28 Staaten der Union sind für nicht mal zehn Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Folgt man der Argumentation, auf der das Klimapaket der Großen Koalition oder der Green Deal von EU-Kommissionschefin Von der Leyen fußt, sollen die Anstrengungen ebenfalls einen disruptiven Moment auslösen. Europa soll demnach eine Vorbildfunktion einnehmen. Der Rest der Welt soll folgen. So könnte - zumindest in der Theorie - eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, die das derzeit noch unzureichende Tempo der Rückabwicklung der globalen Emissionen auf das notwendige Maß beschleunigt.
Ist Deutschland ein gutes Vorbild?
Aber kann das funktionieren? Derzeit gibt Europa ein zutiefst uneinheitliches Bild ab. Während Deutschland den Ausstieg aus der Kohleverstromung beschlossen hat, hält das Nachbarland Polen weiter daran fest, Braunkohle zu verbrennen und betreibt das größte Kraftwerk seiner Art in Belchatow, das jährlich mehr CO2 ausstößt als ganze Staaten wie Irland oder die Slowakei. Während weltweit immer mehr Staaten ihre Windkraftkapazitäten zum Teil massiv ausbauen, steckt die Branche in dem Land, das so gern Vorbild sein möchte, in einer schweren Krise: In der deutschen Windkraftindustrie sind allein 2017 27.000 Jobs verloren gegangen. Frankreich hält weiter an seiner prestigeträchtigen Atomindustrie fest und argumentiert, damit doch klimaschonend Strom zu erzeugen. Und mehrere Staaten Osteuropas sehen in Kernkraftwerken die einzige verlässliche Alternative, falls ihnen der Ausstieg aus der Kohle abverlangt wird. Derart heterogen wird es schwierig, wie ein Vorbild dazustehen.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in ihrer Neujahrsansprache, es müsse "alles Menschenmögliche" unternommen werden, um diese "Menschheitsherausforderung" zu bewältigen. Das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung trage dem Rechnung. Ob das auch all jene so sehen, die dem deutschen und europäischen Vorbild künftig folgen sollen? Kann das deutsche Modell die drängende Frage beantworten, wie eine Alternative zu der vermeintlichen Verlässlichkeit weltweit Hunderter im Bau befindlicher Kohlekraftwerke aussehen kann? Wie schlüssig wird Deutschland, das seine nahezu fehlerfrei arbeitenden Atommeiler aufgegeben hat, all jenen Nationen antworten, die nun eine Renaissance der Kernenergie fordern? Wie bewältigt dieses Land selbst die Energiewende, wenn der notwendige Ausbau der Stromtrassen von jeder noch so kleinen Bürgerinitiative blockiert und die Windkraftindustrie in einer tiefen Krise steckt?
Im Kontext einer sich verändernden globalen Sicherheitslage und Handelsstreitigkeiten wurde eines schon oft betont: Wenn Europa sich gegen die Großmächte behaupten will, muss es lernen, mit einer Stimme zu sprechen. Für die Klimapolitik gilt das umso mehr, als dass der Kontinent erklärtermaßen zum weltweiten Vorbild werden will. US-Präsident Donald Trump ist aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen. Russlands Präsident Wladimir Putin glaubt nicht daran, dass der Mensch am Klimawandel beteiligt ist. Brasiliens Jair Bolsonaro bezeichnet den Klimawandel als "Falschmeldung". Und in Indien und China, die gemeinsam für fast 35 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich sind, sind Hunderte neue Kohlekraftwerke geplant. Wenn Europa der Welt glaubhaft machen will, dass es vermutlich klüger ist, die Emissionen nun zu verringern, als die Folgekosten zu tragen, müssen sich die Staaten der EU endlich einig werden.
Letztlich werden Deutschland und Europa auch zum Laborversuch für gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Klimapolitik. Wollen sie beim Klimaschutz voranschreiten, werden sich zwangsläufig hier gesellschaftliche Brüche zeigen, die es woanders noch nicht gab. Vergangene politische Herausforderungen - Finanz-, Euro-, Migrationskrise - haben das Land und den Kontinent erheblich polarisiert. In der Klimapolitik haben sich die Lager bereits gebildet. Die Rechtspopulisten bieten traditionell eine einfache Lösung für ein komplexes Problem an: Der Mensch hat keinen Einfluss, lautet ihr Credo. Andere resignieren und wollen sich im Kampf gegen den Klimawandel geschlagen geben und sich darauf beschränken, die Auswirkungen zu lindern. Und es gibt die sehr präsenten Alarmisten. Ihnen zufolge kann kaum ein Weg radikal genug sein. Es klingt, als drohe ab einer Erderwärmung von anderthalb Grad schlagartig die Apokalypse.
Dabei betonen Klimaforscher neben aller Notwendigkeit zum Handeln auch immer wieder: Die Folgen einer Erwärmung von drei Grad wären schlimm, aber nicht zwangsläufig fatal für die Menschheit. Und auch wenn es soweit ist, lohnt es sich noch gegen eine weitere Erhitzung zu kämpfen. Ob Deutschland und Europa der Welt Vorbild sein können, wird sich auch an der Frage entscheiden, ob sie ihre eigenen Gesellschaften mit einem Weg, dem die Mehrheit zu folgen bereit ist, im Innern zusammenhalten können.
Quelle: ntv.de
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