Ein Besuch auf der Anarcho-Insel

  21 Januar 2020    Gelesen: 1080
Ein Besuch auf der Anarcho-Insel

Auf dem Rummelsburger See lebt eine Gruppe Aussteiger. Einzige Regel: Keine Nazis. Manche Uferbewohner stören sich an „Neu-Lummerland“.

Jenny Pollack, in einem früheren Leben Unternehmensberaterin, sitzt zusammen mit vier anderen Siedlern im Mutterschiff von Neu-Lummerland und erzählt davon, dass sie nun, zwei Jahre später, nicht mehr verstehe, wie sie einst in „kapitalistischen Zwängen“ habe leben können. Hier auf Neu-Lummerland gebe es keine Regeln, sagt sie, keinen Kapitalismus. Am Ufer sieht es anders aus: Immer mehr Büros und Wohnungen entstehen, auch die Touristenattraktion "Coral World" steht in den Startlöchern. Die Senatsverwaltung will den See am liebsten ohnehin freischaffen von Hausbooten, scheiterte mit einem Ankerverbot und versucht es nun durch eine Seesanierung.

Längst werden in Neu-Lummerlands Nachbarschaft auch „gemütliche Hausboote mit Kamin“ über AirBnb angeboten, „kann man mit Blick aufs Wasser tiefenentspannen und beim seichten Schaukeln der Wellen behaglich schlummern“, wie es in einer Angebotsbeschreibung heißt. „Alternatives Wohnen auf dem Wasser – grade in der dafür prädestinierten Rummelsbucht lässt sich dieses beliebte Modell authentisch erleben.“

Neu-Lummerland, selbsternannte, in Spreewasser schwimmende Anarcho-Insel im Berliner Osten, bestehend aus ungefähr 50 Meter vom Ufer entfernt ankernden, miteinander vertäuten Booten, zwischen Rummelsburg im Norden und der Friedrichshainer Halbinsel Stralau im Süden. Von Menschen bewohnter, sagenumwobener Ort ohne Regeln mitten auf dem Rummelsburger See. Einstige Obdachlose leben hier neben Künstlern.

Ein solches Leben sei – Pollack schaut durch ein Bullauge rüber aufs Festland – in der heutigen Gesellschaft kaum mehr möglich. „Jeder muss funktionieren, niemand darf aus dem Rahmen fallen“, sagt sie. „Alles andere verzeiht man in unserer kapitalistischen Welt nicht mehr.“ Auf Lummerland gelte: Kein Kapitalismus, keine Fremden.

Der engere Kreis zähle 50 Leute, sagt Weber – für die meisten Zweitwohnsitz, eine Art Gartenlaubensiedlung, es sind schwimmende Kleingärten, um die längst auch ein Kulturkampf geführt wird. Die auf den Booten gegen die in den Palästen am Ufer. So manches Hausboot verbirgt durchaus nobles Interieur, und nicht alle der neuen Wohnungen auf der Halbinsel Stralau sind Luxusapartments. Pollack hat noch eine Eigentumswohnung in Berlin-Mitte. Ein Überbleibsel aus ihrem alten Leben. Oft lässt sie befreundete Obdachlose in der Wohnung leben, erzählt sie.

Uferbewohner beschweren sich über das laute Leben auf dem Wasser. Im vergangenen Jahr war die Wasserschutzpolizei an 167 Tagen auf dem Rummelsburger See im Einsatz. Die Grüne Clara Herrmann, Umweltstadträtin von Friedrichshain-Kreuzberg, spricht von einem „Beschwerde-Hot-Spot“: Klagen über Drogen, Müll, Lärm und Aggressivität. Laut dem Abgeordnetenbüro von Innensenator Andreas Geisel wurden hier fünf Haftbefehle vollstreckt. Seit Juli habe es mehr als 100 Anzeigen gegen Bootseigentümer gegeben. Anwohner, die sich an Lummerland stören, wollen nicht namentlich genannt werden. Aus Angst vor den Seebewohnern, wie sie sagen.

Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz wollte das Ankern auf dem See verbieten, die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes als Eigentümer des Sees lehnte dies jedoch ab. Ein Widerspruch des Senats gegen die Ablehnung wurde rechtskräftig abgelehnt. Das Gewässer ist eine Bundeswasserstraße, natürlich würden hier Boote fahren und ankern, so die Argumentation der WSV. Lummerland brannte bereits einmal ab. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Brandstiftung.

Es ist ruhig an diesem Dezemberdonnerstagmorgen, nur Enrico Webers Motorboot röhrt über den See, ein kleiner pinker Plastik-Flamingo wackelt über dem Armaturenbrett. Bisher waren Journalisten auf Lummerland nicht willkommen, doch Weber ist neuer Besitzer des Mutterschiffes – des in der Inselmitte ankernden Bootes, an dem die anderen festgemacht sind –, der vormalige sei für eine Frau an Land gegangen, erzählt Weber. Mutterschiffbesitzer haben in Bootsverbänden wie Lummerland eine Art Sonderstellung, und Weber will sie nutzen, um Lummerland offener zu gestalten für Dialoge, auch mit den Seeanwohnern und Politikern.

Der 47 Jahre alte Mechatroniker und Vater von zwei Töchtern aus Sachsen hatte seinen Job vor drei Jahren eine Zeitlang hingeschmissen und sich zunächst ein kleineres Boot in Berlin gekauft, mit dem er an Wochenenden zum Rummelsburger See und manchmal um Lummerland herum fuhr – mehr als ein Jahr lang, bis die anderen ihn an Bord ließen. Er blieb.

Vier andere Lummerland-Bewohner steigen rüber in sein enges, wankendes Wohnzimmer mit Ofen und setzen sich, wollen über ihr Lummerland erzählen. Andere Mitglieder der Gemeinschaft sind nicht so offen. Das große, weiße Schiff neben dem von Weber zum Beispiel soll nicht betreten und auch nicht fotografiert werden. Der Besitzer wolle nicht vor der Presse reden, sagt Weber und zuckt mit den Achseln.

Jenny Pollack lacht, wärmt sich am Ofen, sie sagt: „Die Kunst ist nicht das Anlegen, sondern das Bleiben.“ Sie sucht das Feuerzeug, um sich eine neue Zigarette anzuzünden.

Pollack ist über Tinder dazugestoßen – durch die Dating-App hatte sie ihren damaligen Freund und sein Boot kennengelernt, das eine Zeitlang an Alt-Lummerland lag. Später kaufte sie sich ein eigenes Schiff. Eines, wie es auch in den Häfen von St. Tropez oder Amsterdam ankern könnte, fast schon eine Jacht. „Ich hatte ordentlich Kohle, aber mir ging es nicht gut damit“, sagt sie. Auf Lummerland sei es erst nicht leicht gewesen, „ich war es nicht gewohnt, mit anderen zusammenzuleben und zu teilen.“

Die Fluktuation auf Lummerland ist streckenweise hoch: Einige kommen und gehen schnell wieder, andere bleiben länger. Lummerland lebt, es wächst organisch, wie ein Rhizom – und es blüht auf im Sommer wie eine Seerose.

Nicht nur die Boote auf dem See werden immer mehr, aus 24 vor vier Jahren sind ungefähr 200 im vergangenen Sommer geworden. Auch das Ufer wird bald vollständig bebaut sein. Die Friedrichshainer Seeseite wurde in den letzten Jahren zügig mit Wohnungen und Gewerbe bebaut.

Teils direkt am Wasser, beworben mit „Blick auf den See“ und „ruhiger Lage“. Weber schaut hinüber zu den Landratten. Mit einigen verstehe er sich ganz gut, sagt er. Manche würden ihn immer nur beschimpfen. Wenn es nach der von Regine Günther geleiteten Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz geht, soll der Rummelsburger See nicht mehr als dauerhafter Wohnort von Hausbooten genutzt werden. Die Bezirke Lichtenberg und Friedrichshain-Kreuzberg haben Anlegeverbote beschlossen.

Und es wird weiter gebaut: Auf der Westseite, zwischen dem See und der Bahntrasse Richtung Ostkreuz, entsteht „B:Hub“, ein Bürokoloss: 300 Meter lang, fast 50 000 Quadratmeter Fläche und bis zu elf Stockwerke hoch, 24 Euro Monatsmiete kostet der Quadratmeter. „A new landmark in Berlin“ … „More than just a space“ ... „idyllisch am Wasser“: So bewirbt sich „B:Hub“. Den neuen Büro-Riegel braucht die Stadt als Lärmschutz, um in Stralau noch mehr Wohnungen errichten zu können.

Am 27. Februar 2019 beschwerten sich rund 30 Anwohner über Lummerland und die Situation am See bei Innensenator Andreas Geisel, der selbst in der Nähe, in Karlshorst unweit des Sees wohnt und dort seinen Wahlkreis hat. „Sie haben meinen Ehrgeiz geweckt, ich gebe mir Mühe. Ich werde mich darum kümmern“, versprach Geisel. Er ermutigte die Bürgerinnen und Bürger dazu, Fotos zu machen. Die vermuten Drogenhandel und Wasserverschmutzung auf Lummerland. Die würden dort ins Wasser scheißen, heißt es. Und nachts, da würden Boote ans Ufer fahren – das seien doch Drogenkuriere, meinte eine Anwohnerin. Dass nächtliche Seefahren nichts aussagen, wurde ihr dann schnell klar.

Andere Anwohner erzählen von alkoholisierten Lummerländern, die aggressiv geworden seien. Jenny Pollack und Enrico Weber sagen dazu: Geschäfte mit Drogen könne man ebensogut auf dem Festland vermuten, hinter den Wänden der Wohnungen. Philipp Marten, Leiter von Geisels Abgeordnetenbüro, sagt, es seien keine Fotos zugesandt worden, die Straftaten dokumentieren. Kurz vor Weihnachten wurde Geisels Wahlkreisbüro mit Farbe beschmiert – nicht das erste Mal. „Unsere Aktion richtet sich gegen die Verdrängung autonomer Freiräume in Berlin“, heißt es in einem dazugehörenden Schreiben.

Gemeint ist damit vielleicht auch das Obdachlosenzeltlager am Westufer. 150 Menschen, aus Bulgarien, Rumänien, Deutschland sollen dort leben. Mitarbeiter des Sozialarbeitsvereins Karuna, die im Auftrag der Senatsverwaltung für Soziales die Obdachlosen an der Rummelsburger Bucht eine Zeitlang betreut hatten, sagen, sie kennen keine größere Ansammlung von obdachlosen Menschen in Deutschland.

Die Wache Ost der Wasserschutzpolizei spricht vom See als einem Schwerpunktbereich, insgesamt seien die Kollegen im Jahr 2019 ungefähr 2000 Stunden lang hier tätig gewesen, bei „400 Einsatzanlässen fertigte die Wasserschutzpolizei ca. 500 Vorgänge“.

Aus einem Protokoll der Wasserschutzpolizei ist zu entnehmen, wie einer der Beamten beschreibt, die Einsatzerfordernisse auf dem Rummelsburger See seien ähnlich hoch wie auf dem viel größeren Müggelsee. „Die digitale Vernetzung der Nutzer auf dem See und ihr ‚Frühwarnsystem’ vor der WSP sind ausgezeichnet organisiert.“ Gemeint ist eine WhatsApp-Gruppe, in der sich die Seebewohner austauschen.

„Wir leben hier von Toleranz, nicht von Rücksicht“, sagt Pollack. Falsch verstandene Rücksicht, wie in Wohngemeinschaften an Land, sei schädlich. Man müsse alle so tolerieren, wie sie sind. Und wenn einer laut ist, müsse man eben das tolerieren. Auf Lummerland macht niemand leiser, weil der andere am nächsten Tag arbeiten muss. Und, im Gegensatz zum Leben auf dem Festland, kann jeder mit seiner schwimmenden Behausung jederzeit ablegen und sich einen ruhigeren Ort auf dem See suchen.

Pollack zum Beispiel ankert seit ein paar Tagen nicht an Lummerland. Auch sie brauche mal etwas Ruhe, bevor sie sich über den Winter ohnehin nach Indien verabschiedet. Wegen des Wetters in Berlin, nicht wegen dem Leben auf See. Einen Rückflug hat sie noch nicht gebucht.

Im Sommer, wenn Lummerland blüht, klar, da haben sie schon mal die Musikbox auf einem Bootsdach vergessen in der Nacht – und die lief dann bis morgens. Aber Pollack meint, die Landbewohner hätten andere Probleme mit Lummerland: „Die stören sich schon an unserem Anblick, verstehen nicht, wie wir hier leben, haben Angst.“ Müll werde nicht ins Wasser geworfen, sondern in Container gebracht, die am Ufer bereitstehen. Und natürlich gibt es eine Öko-Toilette auf dem Bootsverband „Ich schmeiß ja auch keinen Müll in meinen Vorgarten“, ruft Ronny Hering, der neben Pollack sitzt. Die Anwohner würden versuchen, Fotos von ihnen zu machen. Einmal habe jemand vom Ufer gerufen: „Wir fackeln euch nochmal ab.“

Alt-Lummerland war im März 2017 abgebrannt. Teile der Überreste sind noch im See. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen längst eingestellt und Brandstiftung ausgeschlossen. Sie vermutet einen defekten Motor oder einen Vorfall bei einer Party als Brandursache. Auf den Booten sieht man das skeptisch: Es sei feucht gewesen, es habe geregnet an dem Tag.

tagesspiegel


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