Wir haben den klügsten Pornostar der Welt besucht
Es ist Freitag, kurz vor 19 Uhr, das Brooklyner Viertel Bedford-Stuyvesant ist längst düster, und Stoya freut sich auf diesen Abend, was aber daran liegt, dass sie später ihre drei besten Freundinnen erwartet. Ihr Mitbewohner unterbricht das Gespräch einmal kurz, um zu fragen, ob er Pizza bestellen soll. "Bei dem Anarchisten-Restaurant?" ruft Stoya. "Nein, da ist Shitshow", schallt es zurück. Kurz darauf stehen drei Schachteln auf dem Tisch. Die Gastgeberin fühlt sich wohl.
Auch Mitte Januar war Stoya Gastgeberin, im J.W. Marriott Hotel in Downtown Los Angeles, bei den "XBIZ Awards", einer der wichtigsten Preisverleihungen der Pornobranche. Die 29-Jährige hatte sich bereits vor Monaten dazu verpflichtet, die Gala zu moderieren, doch nun wäre sie am liebsten gar nicht in diese Stadt gekommen, die das Zentrum der US-amerikanischen Pornoindustrie bildet. Das Los Angeles County ist einer der wenigen Orte im Land, wo Pornoshootings legal sind. Hier leben die meisten Darsteller, Regisseure und Produzenten, hier sitzen die Studios und hier, im "Porn Valley", feierte sich in dieser Nacht die Industrie selbst.
Stoyas Vergewaltigungsvorwurf gegen James Deen
Stoya war mit Gedanken und Gefühlen woanders. Ende November hatte sie veröffentlicht, dass ihr Kollege und Ex-Freund James Deen sie in der Beziehung vergewaltigt habe. "James Deen drückte mich beim Ficken runter, während ich `Nein, stop` gesagt und mein Signalwort benutzt habe. Ich kann nicht mehr nur nicken und lächeln, wenn Leute ihn erwähnen", schrieb sie bei Twitter – und brach damit ihr fast zweijähriges Schweigen. Der Text wurde fast 11.000 Mal retweetet. Acht weitere Frauen trauten sich anschließend, über ihre Erfahrungen mit Deen zu sprechen, und warfen dem bekanntesten Pornostar der Welt Serienvergewaltigung vor. Doch wie in den meisten anderen Branchen reichte die tiefe Empörung nur bis zur nächsten großen Party. Und so war es nicht mal ein Skandal, dass auch Deen im Publikum der "XBIZ Awards" saß, als Moderatorin Stoya zur Begrüßung sagte: "Mir liegt es am Herzen, ein paar Worte zu sagen … aber ich mache es lieber nicht."
Wer Stoya kennt, weiß, dass sie nicht gerne schweigt. Sie ist die wohl politischste Figur einer Branche, die selbst ein einziges Politikum ist. Stoya führt einen ständigen Kampf gegen die Stigmatisierung ihres Berufes und wird dabei nicht nur von Frauenhass und Vorurteilen, sondern auch von eigenen Kollegen gebremst. In Artikeln, die von "Vice", "The Guardian" und "The Verge" veröffentlicht werden, nimmt sie feministische Stellungen ein und wird dafür von linken Intellektuellen geliebt. Von Konservativen wird sie nicht nur dafür gehasst, dass sie dreimal abgetrieben hat.
Negative Folgen für die allgemeine Gesundheit
Als ein amerikanisches Bundesgericht im Dezember 2014 die gesetzliche Kondompflicht für Pornodrehs im Los Angeles County ("Measure B") bestätigte, ließ sich Stoya die richterliche Begründung unter die linke Brust tätowieren: "Negative Impact on Public Health" – Negative Folgen für die allgemeine Gesundheit. Ein Zeichen des Protestes. "Ich glaube an das Recht einer jeden Person, zu entscheiden, was in den eigenen Körper rein und was raus geht", sagt Stoya. Ihr genügt der warme Status der Prominenz nicht. Sie will Porno selbstbestimmter und weniger patriarchalisch machen.
Doch die junge Frau, die seit knapp zehn Jahren im Pornogeschäft arbeitet, ist an einem Punkt angelangt, wo an ihrer Karriere genauso viele Fragezeichen wie Ausrufezeichen kleben. Stoya will in den kommenden Wochen entscheiden, wie es mit der von ihr und der Kollegin Kayden Kross gegründeten Website und Produktionsfirma "Trenchcoatx" weitergeht. Will sie weiter als Darstellerin arbeiten? Weiter Regie führen und Filme produzieren? Weiter schreiben? Weiter die Balance zwischen Industriekritik und Industrie suchen?
Stoya zündet sich eine neue Kippe an. "Vieles, was ich bei Twitter und so weiter lese, wärmt mein Herz. Auf der anderen Seite höre ich seit zehn Jahren, dass ich in die Hölle soll. Kein Wunder, dass ich mich isoliere." Wenn sie in New York ist, verlässt sie ihre Wohnung oft tagelang nicht. Dann holt sie sich ihre Freunde nach Hause und schenkt ihren Fans, die sich Stoyanauts nennen, gelegentliche Einblicke in ihr Leben. Ihre 160.000 Instagram- und 240.000 Twitter-Followers erfahren, wenn Stoya sich die Achselhaare wachsen lässt, und dass sie Mitglied einer Foucault-Lesegruppe ist.
Kunsthochschule war eine Idee
Geboren wurde sie 1986 in North Carolina mit dem Namen Jessica Nelson. Ihr Vater, ein serbischer Informationstechniker, der ihr früh das Betriebssystem DOS beibrachte, und ihre Mutter, eine feministische Atomkraftmitarbeiterin, ließen sie zu Hause unterrichten. "Wir sind in meiner Kindheit viel umgezogen. Ich habe nicht wirklich Freunde gehabt", erzählt sie. Im Alter von drei Jahren begann sie mit Ballett, nachdem sie den "Nussknacker" gesehen hatte. Der Sport wurde zum Lebensmittelpunkt, die Profikarriere zum Ziel. Bis eine Fußverletzung den Traum zerstörte, als sie 15 war. Sie musste eine Alternative finden. Kunsthochschule war eine Idee, Englische Literatur eine andere. "Zur Uni zu gehen, ohne zu wissen, was ich genau will, wäre zu teuer und nicht so klug gewesen", sagt Stoya. Sie zog nach Philadelphia und wurde Gogo-Tänzerin.
Als sie eines Abends im Sommer 2006 nach der Arbeit halbnackt auf der Couch lag, fragte ihr Mitbewohner, ein Fotograf, ob er Bilder von ihr machen dürfe. Kurze Zeit später fragte wiederum die Website, auf der die Nacktfotos veröffentlicht waren, ob sie einen Sexfilm mit einer Frau drehen wollen würde. Sie flog nach Los Angeles, hatte Spaß bei der Arbeit und verdiente schnelles Geld. Der Nachname ihrer Großmutter, Stojadinovic, inspirierte sie zu ihrem Künstlernamen. Als Stoya es ihrer Großmutter beichtete, fragte die zurück: "Und, macht es Spaß?" Stoya antwortete: "Ja. Und ich mache nur Dinge, die ich will."
Das Mädchen, das so lange keine Freunde hatte, verdiente nun Geld damit, dass ihr die Welt beim Sex zuschaut. Niemand hat Stoya zu ihrem Beruf gezwungen. Und niemand hat sie darauf vorbereitet, von Hunderttausenden geliebt und verachtet zu werden.
Zwischen Marilyn Manson und Bret Easton Ellis
"Ich war am Anfang in der Kategorie Alternative Porn, weil ich einen blauen Pony und Nippelpiercings hatte", erzählt sie und lacht durch ihre grünen Augen. Stoya trägt seit kurzem wieder Pony, allerdings in der Originalfarbe: dunkelbraun. Als sie als Darstellerin anfing, neigte sich das Jenna-Jameson-Zeitalter dem Ende entgegen. "Fast alle Frauen waren gutgebräunt und hatten große Brüste. Ich bin blass und habe kleine Brüste. Heute sind viele Darstellerinnen mit Tattoos übersäht", so Stoya. 2007 unterschrieb sie einen Vertrag bei der mächtigen Produktionsfirma "Digital Playground" und lehnte deren Angebot zu einer Brustvergrößerung dreimal ab. 2009 lernte sie den Rockmusiker Marilyn Manson kennen, doch die Beziehung hielt nur ein halbes Jahr.
"Nur weil wir Spaß hatten, heißt es nicht, dass es lange Zeit halten muss", hat sie einmal gesagt. Dann verliebte sie sich in James Deen, der zu der Zeit gerade Lindsay Lohan datete. Die beiden hingen mit Deens Kumpel Bret Easton Ellis in den Hollywood Hills ab und stiegen zum Glamourpaar der Pornowelt auf. Das Magazin "The Village Voice" titelte im Jahr 2013, nachdem Stoya die Stadt gewechselt hatte: "Das schönste Mädchen in New York – ist ein Pornostar" und verglich das Paar mit Beyoncé und Jay-Z.
Stoya erhebt sich aus ihrem Schneidersitz, läuft zum Bücherregal und greift ein kleines Heftchen mit Schleife und USB-Stick heraus. "Hier, das ist der erste Porno, bei dem ich Regie geführt habe", sagt sie. Der Film heißt "Graphic Depictions", genau wie ihr eigener Blog. Die 80 Minuten sind komplett dialogfrei, der Elektro-Soundtrack ist experimentell. An einer Stelle hält sich Stoyas Kollegin Dana Vespoli eine Banane vor die Schamhaare und lässt einen Mann mit Anzugshose daran lutschen. Der Film könnte auch bei einer Hipster-Gallery-Eröffnung in Williamsburg laufen.
Schwarze Männer, weiße Frauen?
Stoya ist Regisseurin und Produzentin geworden, um sich von den Entscheidungen anderer zu emanzipieren. Wie will sie Porno verändern? "Eine der wichtigsten Faktoren ist die Sprache. Früher gab es Videotheken und Regale. Mit dem Internet kam die detaillierte Kategorisierung hinzu", sagt Stoya. "Die Leute suchen nach Milf. Oder nach Teen. Warum gibt es kein Wort für Frauen, die älter als zwanzig, aber noch keine Mütter sind? Warum gibt es überhaupt die Kategorie Interracial?" Die Pornographie sei zu sehr auf schwarze Männer, die weiße Frauen penetrieren, fokussiert. "Das ist rassistisch", sagt sie. Außerdem hat sie ein System entwickelt, das sich "Squick and Squeeze" nennt und bei dem man nicht nur angeben kann, was man will – sondern auch, was nicht. "Wenn Leute nicht sehen möchten, wie eine Frau mit Brustmilch spritzt, dann sollen sie nicht von einer solchen Szene überrascht werden." Stoyas Anspruch ist Differenzierung und Diversität. "Ich habe vor ein paar Wochen festgestellt, dass wir keinen einzigen männlichen Regisseur auf unserer Website haben. Wir sind etwas zu stark in die eine Richtung gelaufen."
Der vollständige Zugang zu den Videos auf Trenchcoatx.com kostet 24,95 Dollar im Monat. Einzelne Szenen kann man für 3,99 kaufen. Doch wer bezahlt für etwas, das es in gefühlt unendlicher Masse umsonst gibt? "Es gibt mehr und mehr Leute, die dafür bereit sind", sagt Stoya etwas reflexartig. Wahrscheinlich braucht es für diesen Mentalitätswechsel genauso viel Geduld wie in etwa in der Musikbranche. "Wir glauben an die hohe Qualität unserer Produkte, faire Preise für den Konsumenten und faire Bezahlung für die Leute, die für uns arbeiten", steht auf Trenchcoatx.com.
Angstlösende Pillen halfen Stoya nicht
Der Schritt, über die Vergewaltigung zu reden, war ebenso mutig wie erleichternd. "Ich habe lange Zeit mit dem Wissen gelebt, dass er gewalttätig war", sagt Stoya. Sie trank Alkohol, schluckte angstlösende Pillen, konsultierte einen Therapeuten. "Ich habe befürchtet, dass diese Geschichte nur Futter für die Leute ist, die Porno verteufeln." Juristisch will sie nicht gegen Deen vorgehen, dafür glaubt sie zu wenig ans Justizsystem: ein Pornostar ist immer im Unrecht.
Als sie den entscheidenden Tweet im November absetzte, war sie in Serbien zum Drehen. "Ich habe die meisten Nummern geblockt und das Internet anschließend gemieden", sagt sie. Die überwältigende Solidarität fand dennoch ihren Weg. Deen, der das Image des feministischen Sunnyboys hatte, widersprach den Vorwürfen in einem Interview. Er und Stoya hätten ein unsauberes Beziehungsende gehabt. Die Anschuldigungen der anderen acht Frauen, darunter die Kolleginnen Tori Lux, Ashley Fire und Amber Rayne, kommentierte er nicht.
Es klingelt. Ihre Freundinnen sind da. "Die Tür! Die Tür! Die Tür! Die Katzen!", ruft Stoya zur Begrüßung panisch. Doch Pixelcat und Widget haben sich nicht von der Treppe bewegt. "Einen Moment", sagt sie, "wir sind gleich fertig".
Ein Punkt sei ihr noch wichtig. Stoya will nicht nur die Frau sein, die James Deen gestürzt hat. Sie will mehr, vielleicht auch ein Buch schreiben. "Auf jeden Fall kein Sex-Tipps-Ratgeber, davon gibt es ja schon ein paar. Aber vielleicht ein Buch darüber, wie die Pornoindustrie funktioniert und wie sie nicht funktioniert. Über die ethischen Sackgassen."
Quelle- welt.de