Die Kanzlerin pries die Türkei nicht nur für die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge, sondern auch für den Schutz deutscher Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg. Nimmt man ihren jüngsten freundlichen Besuch in Moskau bei Präsident Wladimir Putin dazu, dann wird in den vergangenen Monaten eine bemerkenswerte Wende in den Beziehungen des größten EU-Staates mit den europäischen Problemfällen Russland und Türkei deutlich.
Seit sich die westliche Supermacht USA unter Präsident Donald Trump Schritt für Schritt zurückzieht und die EU-Staaten das entstehende Vakuum an ihrer Südflanke nicht füllen können oder wollen, hätten sich beide Länder zu entscheidenden Sicherheitsfaktoren entwickelt, erklärt ein EU-Diplomat. Russland ist der entscheidende Akteur in den Kriegen in der Ukraine, Syrien und wohl auch Libyen geworden. Die Türkei wiederum hat mit dem Einmarsch in Nordsyrien und der Militärhilfe für die libysche Regierung deutlich gemacht, dass sie in beiden Konflikten mitspielen will. Russland und die Türkei seien entscheidende Kräfte auf zwei der größten Migrationsrouten nach Europa, wird in der EU eingeräumt. Die “Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung” prägte deshalb den flapsigen Begriff “Schleusenwärter”.
Weil Merkel seit Jahren erklärt, dass die EU nur sicher sein könne, wenn die Krisen um die EU stabilisiert werde, bleibt ihr und anderen EU-Politikern keine Alternative, als verstärkt mit Putin und Erdogan zu reden. “Ohne Russland und die Türkei läuft derzeit in einigen Krisenherden nichts mehr”, heißt es in der Regierung illusionslos. Die Kanzlerin hatte immer deutlich gemacht, dass Außenpolitik für sie ohnehin nicht viel mit Sympathien zu tun hat. “Wir definieren aus deutscher Sicht, aber auch aus europäischer Sicht natürlich wie immer in der Außenpolitik erst einmal unsere Interessen. Russland definiert seine Interessen. Wir tun gut daran, zu schauen, wo wir Gemeinsamkeiten bei diesen Interessen haben”, hat sie jetzt neben Putin stehend nochmals gemahnt.
Die Folge ist, dass sich auch in den bilateralen Beziehungen einiges verschiebt: Im Ukraine-Konflikt sorgte Merkel zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dafür, dass Putin erstmals seit drei Jahren wieder zu einem Normandie-Gipfel anreiste. Und vergangenen Sonntag versammelte sie die Regierungen der in Libyen aktiven ausländischen Staaten zu einer Konferenz in Berlin - und überzeugte auch Putin und Erdogan von einer Teilnahme und der Zusage zur Waffenruhe.
Allerdings ist das Ziel häufig nur eine Reparaturmaßnahme: Für die Kämpfe in der syrischen Region Idlib etwa mahnte Merkel bei Putin vor allem humanitäre Korridore an - und ist nun auch bereit, in der türkischen Sicherheitszone in Nordsyrien humanitär zu helfen. Militärisch scheinen die Fronten durch die syrisch-russische Überlegenheit und die Anwesenheit türkischer Truppen längst entschieden. In Libyen gibt es Zweifel, ob Putin und Erdogan nicht ein doppeltes Spiel spielen, weil sie einerseits die Einhaltung des UN-Waffenembargos zusagen - und andererseits laut Medienberichten Söldner in das nordafrikanische Land schicken. Der türkische Präsident wich einer Frage danach am Freitag aus.
Nur gibt es angesichts der neuen Kräftelage aus Sicht der Bundesregierung wenig Alternativen. Dazu kommt, dass die Kanzlerin - ebenso wie Außenminister Heiko Maas - in einigen Punkten durchaus Verständnis für die Haltungen der schwierigen Partner hat: 2011 hatte sie ebenso wie Putin eine militärische Intervention in Libyen abgelehnt und vor dem dann tatsächlich eintretenden Chaos gewarnt. In Istanbul kündigte sie an, sich für weitere EU-Hilfe für die Versorgung von drei Millionen syrischer Flüchtlinge einsetzen zu wollen.
Allerdings lässt gerade Erdogan kein Zweifel daran, dass er seine neue Stärke auch ausspielen will: Parallel zu der Debatte über EU-Geld für den Migrationspakt hat die Zahl der Migranten und Flüchtlinge auf griechischen Inseln zuletzt erheblich zugenommen - was nach Ansicht von Experten ohne ein Wegschauen der türkischen Küstenwache kaum möglich war. Und trotz der gezeigten Harmonie in Moskau und Istanbul sind längst neue Spannungen absehbar. Die Türkei etwa setzt ihre Öl- und Gasbohrungen vor der Küste des EU-Staates Zypern fort - was die Spannungen zwischen der EU und Ankara erhöht. Auch Putin demonstriert gerne, Russland als Atommacht in einer anderen Liga spielt: Er denkt an ein Sondertreffen der fünf Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat - Deutschland als nicht-ständiges Mitglied wäre dann nicht dabei.
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