„Wir Juden sind Kollateralschaden“ – Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz - Exklusiv

  29 Januar 2020    Gelesen: 707
  „Wir Juden sind Kollateralschaden“ – Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz -   Exklusiv

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz zeigt sich der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, äußerst besorgt über den zunehmenden Antisemitismus in Europa. Auf seiner Deutschland-Reise kommentierte er Befürchtungen um den Wegzug von Juden aus dem Land und forderte mehr Maßnahmen gegen den Hass in sozialen Medien.

Herr Oberrabbiner, welche Themen beschäftigen die jüdische Gemeinschaft heute in Europa? Ist die Wegzugsstimmung, die Außenminister Heiko Maas kürzlich befürchtet hat, überhaupt zu spüren?

Das Thema Antisemitismus ist heute leider wieder aktuell.

Wir haben es hier vor allem mit radikalen Islamisten und den extremen Rechten zu tun. Zuletzt war der Synagogenanschlag von Halle so ein trauriges Beispiel, zu was ein Mensch fähig ist, der sich radikalisiert hat. Ich glaube, dass die sozialen Medien hier ein sehr großes Problem sind und eine Plattform für Radikale und Antisemiten bieten, die dann mit ihrem Hass Millionen von Menschen kostenlos ansprechen können.

Der junge CDU-Politiker Philipp Amthor sorgte am Montag mit der Äußerung für Empörung, dass Antisemitismus vor allem in muslimischen Kreisen besonders stark vertreten sei. Ist es nicht falsch?

Das Problem hat drei verschiedene Seiten: die Neonazis, dann die Islamisten und auch die extremen Linken. In jedem Land ist der Prozentsatz anders. In Frankreich gehen die meisten Attacken auf Juden von Islamisten aus, in Deutschland dagegen sind es vor allem die Rechtsextremen.

Einer Umfrage zufolge findet mehr als jeder Fünfte, der Holocaust spiele in der deutschen Erinnerungskultur eine zu große Rolle. Womit würden Sie das verbinden? Kann die Erinnerung „zu viel“ sein?

Es ist nicht einfach und angenehm für einen deutschen Bürger, sich an den Holocaust zu erinnern. Gerade weil noch Überlebende des Holocausts auf der Welt sind, ist es umso wichtiger, wenn Deutschland und Europa sich über folgendes bewusst werden: Werden Hass und Rassismus nicht eingedämmt, kann es mit Auschwitz enden, und zwar im Zentrum der Zivilisation, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Auschwitz passierte nicht in Singapur oder in Nigeria, sondern im Europa von Schiller und Goethe. Man sollte nicht glauben, dass Kultur oder Wissenschaft eine Garantie gegen Rassismus und Völkermord sind.

Der Co-Vorsitzende der Stiftung „Holocaust“, Ilja Altman, sagte kürzlich in einem Sputnik-Interview, die Lehren aus dem Holocaust seien nicht nur auf den Antisemitismus zurückzuführen, sondern auch auf die Rassenpolitik der Nationalsozialisten insgesamt, in der die Juden die ersten, aber nicht die letzten Opfer gewesen seien. 

Ich stimme ihm hundertprozentig zu. Rassismus in jeder Form gegen einen Einzelnen oder eine gewisse Rasse ist genauso gefährlich wie Antisemitismus und muss gleich bekämpft werden. Wir in der Europäischen Rabbinerkonferenz arbeiten deswegen mit den Imamen in der muslimischen Gemeinde zusammen, um auch die Islamophobie zu bekämpfen.

Würden Sie den wachsenden Antisemitismus in Deutschland mit den Positionen der AfD verbinden? Die Partei positioniert sich da als „durch und durch pro-jüdisch“. Prof. Dr. Moshe Zuckermann verwies in dieser Hinsicht darauf, dass das Problem der AfD nicht die Juden seien.

Es gibt innerhalb der AfD Teile, die klar antisemitisch sind. Ich erinnere mich an den AfD-Politiker Björn Höcke, der 2017 das Holocaust-Mahnmal in Berlin eine „Schande“ nannte und eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad forderte. Damit sollte aus seiner Sicht ein Schlussstrich gezogen werden etwa in der Form wie: “Man hat sich genug entschuldigt, genug Entschädigungen gezahlt und fertig, man kann weiter gehen”. Das ist die Verharmlosung und Minimalisierung des Holocausts. Im Großen und Ganzen sind heute Hass und Rassismus gegen die muslimischen Neubürger Europas gerichtet.

Die Gesetzentwürfe gegen die Beschneidung oder Halāl-Schlachtung sind vor allem gegen die muslimische Gemeinde ausgerichtet. Wir Juden sind hier der Kollateralschaden. Es ist aber nicht nur die AfD, sondern es sind auch die anderen Parteien, die versuchen, sich koscher zu machen und zu sagen, man sei Freund der Juden und von Israel. Solange aber eine Partei sich rassistisch gibt, spielt es aus meiner Sicht keine Rolle, gegen wen der Hass gerichtet ist, ob nun gegen Juden, Schwarze oder die Muslime. Rassismus ist Rassismus und muss mit allen Mitteln bekämpft werden.

Deutschland will der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in diesem Jahr für die Bekämpfung von Antisemitismus eine halbe Million Euro zur Verfügung stellen. Maas fordert seinerseits Antisemitismusbeauftragte in den EU-Ländern. Alles richtig?

Das ist alles gut und richtig. Wir haben aber heute vor allem ein großes Problem mit den sozialen Medien, die Antisemiten und Extremisten eine Plattform bieten. Es wird nicht genug gemacht, um die sozialen Medien zu kontrollieren, geschweige denn, dass die jeweiligen Betreiber genügend unternehmen, um den Hass auf ihren Plattformen zu bekämpfen. Entweder regulieren die sozialen Medien sich selbst, oder die Regierungen müssen sich einmischen und Gesetze verabschieden, um die sozialen Medien verantwortlich zu machen für den Hass, den Antisemitismus sowie auch für die Islamophobie, der dort tobt und sie zum Handeln drängen.

Also, Sie würden der Bundesregierung vorschlagen, sich mehr mit den sozialen Netzwerken anzulegen?

Ja, absolut, wenn sie nicht weiter zuschauen will, wie die Gesellschaft durch digitalen Hass vergiftet wird.

Pinchas Goldschmidt ist Oberrabbiner von Moskau, Vorsitzender der Rabbinischen Gerichte sowohl der Russischen Föderation als auch der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Vorstandsmitglied des Russischen Jüdischen Kongresses sowie Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz. In Berlin war er am Dienstag bei der Veranstaltung „Sprechen wir miteinander als übereinander! Juden und Muslime im Dialog“ zu hören, wo er sich zusammen mit S. E. Scheich Dr. Muhammad bin Abdul Karim Issa, dem Generalsekretär der islamischen Weltliga, über neue Perspektiven und Wege für kulturelle und religiöse Verständigung, Sicherheit und ein friedliches Miteinander im Zeitalter zunehmender Radikalisierung in Gesellschaft und Politik austauschte.

sputniknews


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