Mevlut tut, was Ehre und Anstand verlangen: Er heiratet Rayiha, bekommt mit ihr zwei Töchter und ist glücklich – wenn da nicht diese Fremdheit in ihm wäre. Und die hat nichts mit dem Irrtum zu tun, der eigentlich ein schlechter Scherz seines zweiten Cousins war. Sie ist vielmehr ein Gefühl, das sich aus Mevluts Unverständnis für die gigantischen Veränderungen seines persönlichen wie auch gesellschaftlichen Umfelds ergibt. Symbolisiert wird das durch das unglaubliche Baugeschehen in der Millionenstadt: Erst wachsen am Stadtrand illegal immer mehr Bruchbuden für die zahllosen Zugewanderten aus dem Hinterland. Gegen Ende müssen diese Notunterkünfte, aber auch traditionelle alte Bauten modernen Umgehungsstraßen oder Hochhäusern weichen.
Auch Mevluts Vater, der in Istanbul als Straßenverkäufer von Jogurt und Boza (ein leicht alkoholisches Hirsegetränk) Geld für die Familie in Anatolien verdient, ist ein Zugewanderter und haust in so einem Verschlag. Als Elfjähriger folgt Mevlut ihm an den Bosporus und wird ebenfalls Straßenhändler für Jogurt und Boza, später auch für Eis und Pilav. Er arbeitet als Kellner, Geschäftsführer, als Parkplatzwächter und als Stromableser. Doch im Gegensatz zu seinen längst in Istanbul etablierten und immer wohlhabenderen Cousins und deren Familie bleibt der ehrliche und gutmütige Mevlut arm, was ihn nicht weiter anficht.
Über 40 Jahre beleuchtet Pamuk Mevluts Werdegang in der ständig wachsenden Metropole. Obwohl der vorzeitig von der Schule abgegangene Junge alles andere als dumm ist, fällt es ihm schwer, sich gesellschaftlich zu positionieren. Er kann sich weder mit dem strengen Konservatismus seiner Heimat Anatolien, dem die Familie auch im westlich orientierten Istanbul mehr oder weniger nahesteht, anfreunden, noch mit den linken Ideen seines besten Freundes. Er bleibt neutral – wie das von ihm allabendlich verkaufte Getränk: Boza hat so wenig Prozente, dass es selbst von streng gläubigen Muslimen nicht als Verstoß gegen deren generelles Alkoholverbot angesehen wird.
Mevlut erweist sich als säkularer Betrachter der politischen wie religiösen rasanten Entwicklung in der Türkei, aber auch als konservativ, wenn es um darum geht, Werte und manches Traditionelle zu bewahren – wobei sein Blick zurück durchaus sentimental und dadurch auch verwässert ist. Klar ist seine Sicht hingegen bei den vielen Unzulänglichkeiten im Staate, die zum Alltag gehören wie Essen und Trinken. Auch wenn er geradezu beiläufig, ja fatalistisch von unzähligen großen und kleinen Korruptionen (ohne Schmiergeld geht gar nichts) berichtet, von Härte, Folter, Bestrafung und Tod. Genauso schildert er die politischen Veränderungen, die die Republik Türkei seit ihrer Gründung durch Atatürk durchlaufen hat und die sich gegen Ende mit dem zunehmenden Einfluss der islamisch-konservativen AKP fast auf Gegenwartsniveau bewegen.
Orhan Pamuk, der sich schon einmal wegen «Beleidigung des Türkentums» vor Gericht verantworten musste, hat mit dem vorliegenden und in der Türkei bereits 2014 veröffentlichten Buch keinen politischen Roman geschrieben. Aber natürlich ist Mevluts Geschichte nicht unpolitisch. Sie beinhaltet die Vision einer modernen Türkei, in der zum Beispiel Frauen nicht mehr unterdrückt (und misshandelt) werden und denen alle Bildungswege offenstehen. Mit Rayiha und ihren beiden Schwestern hat der Schriftsteller drei starke Frauen geschaffen, auch wenn sie noch ein Kopftuch tragen. Mevluts Töchter haben es bereits abgelegt.
«Diese Fremdheit in mir» ist ein heiteres Buch der großen Gefühle, das einfach gut tut und beste Reklame für eine Stadt und ein Volk ist, das der vielfach preisgekrönte Autor («Schnee», «Museum der Unschuld», «Cevdet und seine Söhne») mit all seinen Stärken und Schwächen sieht. Und von dem er hofft, dass es nie mehr seine Toleranz und Meinungsfreiheit zugunsten einer religiös-konservativen Bevormundung aufgibt.
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